Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
lassen vermag. Deswegen ist er – gerade weil er uns leiden lässt – unserer Wegbegleiter zum Glück.
Das tiefste und intensivste Glück, das uns in Aussicht gestellt ist, besteht darin, voll erblüht zu sein – im Glück wie im Leid, in der Freude wie im Schmerz; voll erblühte, große, kraftvolle, schöne Seelen. Ist es dir schon einmal aufgefallen? Man sieht es einem Menschen an, wenn er nicht nur gelitten, sondern seinen Schmerz bewusst durchlebt hat und daran gereift ist. Das lässt ihn sensibel und gerade deshalb schön erscheinen.
Doch diese Reifen im Schmerz gelingt uns nur aus der Kraft des Herzens; weil dort das heilende Ja seinen Sitz hat. Wenn Trennungsschmerz und Liebeskummer nach uns greifen, dann sollten wir nicht einfach nur Gras darüber wachsen lassen, sondern wir sollten in der Liebe und im Herzen bleiben, das „Herzeleid“ bewusst annehmen. „Das ist der Toren Torheit: zu leben ohne Herzeleid“, sagte Mechthild von Magdeburg vor 750 Jahren. Ich glaube, sie hatte Recht.
Müssen wir in der erotischen Lebenskunst deshalb Schmerz und Kummer suchen? Unsinn! Es gibt genug leidvolle Herausforderungen im Leben, da müssen wir nicht auch noch nach ihnen suchen. So wie Eros früher oder später seinen uns beglückenden Pfeil abschießt, so schießt er früher oder später auch den Pfeil ab, der uns betrübt. Es gibt nichts zu tun – nur wehrlos und offenen Herzens bleiben; nur annehmen und lieben, lieben, lieben. „Liebe, nur Liebe – wir haben sonst kein Werk!“ (Rumi)
Leben, das schön ist.
Die Kultur des Eros
An eine Freundin
Wenn nun die Liebe zu einem
menschlichen Wesen mit der Sehnsucht
nach menschlicher Schönheit
gleichbedeutend ist, und wenn die
Schönheit des menschlichen Körpers in
einem gewissen Ebenmaß besteht, so
folgt daraus, dass die Liebe Maßvolles,
Stimmiges und Ehrbares erstrebt
.
Marsilio Ficino
Hingerissen oder frei?
Das Prosaische wird schön,
wenn es die Liebe mit Phoenixflügeln
berührt
.
Gioconda Belli
Aber natürlich darfst du Einspruch erheben! Natürlich darfst du intervenieren, wenn dir etwas nicht einleuchtet! Zumal bei einem so wichtigen Thema wie Schönheit.
„Ich finde“, schreibst du, „dass du um die Schönheit zu viel Wirbel machst. Alle Welt verlangt von uns Frauen, dass wir schön sein müssen. Es ist ein riesiges Geschäft. Denk nur an den ganzen Wahnsinn der plastischen Chirurgie. Denk an die Beauty-Farmen, die Kosmetik-Industrie, diesen ganzen Wahnsinn, bei dem Schönheit kommerzialisiert wird. Ich sag’s dir ehrlich: Ich mag nicht mehr schön sein müssen. Es kotzt mich an. Dieses ganze Gerede von Schönheit klingt in meinen Ohren so falsch. Mit Liebe und Eros hat das für mich überhaupt nichts zu tun.“
Was soll ich dazu sagen? Du hast Recht. Du hast vollkommen Recht. Ich sehe auch, dass in unserer Welt mit dem, was da „Schönheit“ heißt, gewaltig Schindluder getrieben wird; und dass es höchste Zeit ist, die Schönheit aus den Klauen des Kommerzes zu befreien. Aber das ist gar nicht so einfach, denn im Hintergrund des von dir kritisierten Umgangs mit Schönheit steckt eine lange und verschlungene Geschichte. Und da ich meine philosophische
deformation professionelle
nie ganz ablegen kann, erlaubst du mir sicher, uns diese Geschichte ein bisschen ins Bewusstsein zu rufen. Ich hoffe, dir auf diese Weise deutlich machen zu können, warum ich nach wie vor glaube, dass wir alle eine erotische Kultur der Schönheit brauchen – und warum ich ebenso glaube, dass wir die kommerzielle Unkulturdes Bloß-Hübschen hinter uns lassen müssen. Beides geht, so meine ich, zusammen, weil hinter beidem ein je anderes Konzept von Schönheit steht: bei der erotischen Kultur eines, das mir einleuchtet; bei der kommerziellen Unkultur eines, das mir fragwürdig erscheint. Philosophisch könnte man diese beiden Varianten auf den Begriff bringen, indem man sagt: Hier steht ein erotisches Konzept von Schönheit gegen ein ästhetisches Konzept von Schönheit. Und für das erfüllte, blühende, intensiv-prickelnde Leben, das mir vorschwebt, geht es darum, den Sinn für die erotisch verstandene Schönheit zu schärfen – genauer: für das Herz.
Okay, dafür muss ich etwas ausholen. Lass mich dazu erst ein paar Bemerkungen über die ästhetische Schönheit machen. Darunter verstehe ich Schönheit, wie sie sich in der ganz spezifischen und besonderen Sicht auf die Welt darstellt, die man seit dem 18. Jahrhundert
ästhetisch
nennt. Niemand
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