Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
weibliche Anteile kann ich kein Mann sein – und doch ist es für mich unabweisbar, dass ich mich als Mann immer dann am kraftvollsten und energiereichsten erlebe, wenn ich den männlichen Anteil des Eros in mir feiere: wenn ich schaffe, kreativ bin, beherzt für das gehe und stehe, dem meine Leidenschaft, Sehnsucht und Liebe gilt. Und – offen gestanden – deine Reaktion auf mich bestätigt mich darin. Denn dass du mich am liebsten in meiner Kraft und Beherztheit siehst, wirst du nicht bestreiten.
Reshad Feild, der englische Sufi-Mystiker, hat einmal einen Gedanken über die Essenz der Geschlechter formuliert, der zwar anstößig ist, sich aber irgendwie in mir festgesetzt hat. Er sagt: Der Unterschied zwischen Männern und Frauen besteht darin, dass Frauen vollkommen sind und Männer vollkommen werden. Frauen, so Feild, wollen in ihrer Vollkommenheit erkannt werden – von sich genauso wie von anderen. Sie müssen dafür gar nicht viel tun, außer ihrem Sein als Frau zuzustimmen und darin einzuwilligen. Männer hingegen arbeiten immer daran, sich ihr Mann-Sein zu erwerben. Sie sind die
Wesen des Werdens
, wohingegen Frauen die
Wesen des Seins
sind. Das eine ist nicht leichter oder besser als das andere. Es ist nur verschieden. Das ist vielleicht etwas überpointiert, aber blöd ist es nicht; es scheint mir eine Variation auf das alte Thema der Diotima zu sein: Empfänglichkeit, sich öffnen, hingeben an das, was ist;und Kreativität, gestalten, entfalten dessen, was als Potenzial noch in uns schlummert.
Es gefällt mir, dich als dein Mann in deinem Frau-Sein unterstützen, zu deinem Frau-Sein ermutigen zu dürfen; und von dir in meinem Mann-Werden immer neu gefordert, angestoßen, korrigiert, kritisiert, ermutigt, ermuntert, gestärkt zu werden. Und wieder und wieder sehe ich, wie gut es uns – und anderen Paaren – damit geht, dieses bewusste Mann- und Frau-Sein zu entwickeln; wie gut es tut, die Polaritäten der Geschlechter gerade nicht anzunähern und aufzuweichen, sondern sie klar und bestimmt auseinandertreten zu lassen und so die Spannung aufzubauen, die Eros braucht, um lebendig sein. Ganz Mann sein, ganz Frau sein – immer neu darauf achten, dass wir als Paar das Gleichgewicht und die Spannung halten: So wird das Leben zum Fest, zu einem kraftvollen Tanz. So wird die Quelle nicht versiegen, aus der uns die erotische Energie zufließt, die wir brauchen, um uns wieder und wieder ins Leben zu verlieben.
Das große Mobile
Nur wer Meister der Harmonie ist,
versteht das Leben, und wem sie fehlt,
der ist töricht, trotz allen Wissens, das
er erworben hat
.
Hazrat Inayat Khan
Vielleicht machst du an diesem Punkt einen Einwand. Vielleicht denkst du dir: Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Einerseits plädierst du für klare Geschlechteridentitäten, andererseits sagst du, dass Männer und Frauen gleichermaßen in möglichst hohem Maße ihre jeweiligen männlichen und weiblichen Anteile entfalten müssen, wenn sie denn zu erotisch reifen Menschen werden wollen. Wie soll das gehen? Brauche ich denn überhaupt noch einen Mann an meiner Seite, wenn ich meine männlichen Anteile komplett integriert habe? Und brauchst du mich an deiner Seite, wenn du deine weiblichen Anteile entfaltet hast? Können sich solche integrierten Wesen überhaupt noch ineinander – und ins Leben – verlieben?
Kein schlechter Einwand. Die Frage ist wohl, ob es einen solchen Zustand überhaupt geben kann; ob es möglich ist, dass ein Mensch alle Anteile in sich zu einem völligen Gleichgewicht bringt, so dass er in sich das Weibliche und das Männliche vollkommen entfaltet. Mir scheint es doch eher so zu sein, dass unsere Seelen geschlechtlich gepolt – dass sie entweder auf „weiblich“ oder auf „männlich“ gestimmt sind. Jedenfalls glaube ich nicht, dass uns „das Weibliche“ oder „das Männliche“ allein durch Erziehung und soziale Einflüsse eingeprägt wurde. Und wenn das so ist, dann sind wir entweder auf „männlich“ oder „weiblich“ gestimmt; dann entwickeln wir unsere männlichen oder weiblichen Anteile unter einem – und nur einem – dieser beiden Vorzeichen. Und dann kann esauch kein erstrebenswertes Ziel sein, möglichst geschlechtsneutral oder innerlich geschlechtlich ausgewogen zu sein. So wichtig es ist, als Mann die weiblichen und als Frau die männlichen Anteile zu entwickeln, so wenig glücklich wird es dich machen, wenn deine und meine Seele am Ende jeweils zu 50 Prozent weiblich und zu
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