Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
50 Prozent männlich wäre. Dann käme es zu einer Nullspannung, zum „Wärmetod“; es flösse zwischen uns keine Energie mehr. Dann wären wir in der Nacht der Liebe, in der alle Katzen grau sind. Keine schöne Vorstellung.
Nein, ich denke, dass die Geschlechterpolarität auch bei erotisch weit entwickelten Menschen nicht aufhört, auch nicht bei weitgehender Integration der gegengeschlechtlichen Anteile. Und ich finde das, offen gestanden, auch ganz gut so. Genau wie du. Gott sei Dank!
Was man nach meiner Erfahrung allerdings sagen kann, ist, dass Menschen, die hinter ihrem jeweiligen Geschlechtsvorzeichen sowohl männliche als auch weibliche Qualitäten in sich entwickelt haben, innerlich und in ihren Beziehungen freier sind. Sie sind nicht mehr so sehr aufeinander angewiesen; sie hängen nicht voneinander ab, weil sich ihre Verbundenheit nicht aus dem Hunger ihrer Ichs nach dem anderen Geschlecht, nach den ihnen fehlenden Anteilen, herleitet, sondern aus der tiefen Verbundenheit ihrer Seelen.
So jedenfalls deute ich unsere Ehe, die ihre Kraft nun wahrlich nicht daraus bezieht, dass ich der Supermann bin und du das Vollweib bist. Das nun gerade nicht. Es ist doch eher so, dass du viele „männliche“ Anteile in dir integriert hast und ich ebenso meine „weiblichen“ Aspekte nicht verleugne. Das führt dazu, dass unsere Ehe nicht durch sexuelle Hochspannung gehalten wird oder in einem Zustand dauernder sexueller Erregung vibriert – dafür aber gibt sie Raum, unsere tragende Verbundenheit in der Tiefe unserer Seelen zu entdecken. Will sagen: Die Tatsache, dass wir jeweils zu einem hohen Maße die andersgeschlechtlichen Anteile in der eigenen Seele entwickelt haben, vermindert zwar das sexuelle Begehren zwischen uns, ermöglicht aber gleichzeitig eine erotische Hinwendung zur Welt und lässt uns einander somit als in Freiheit verbundene Menschenbegegnen – immer noch als Mann und Frau, darauf bestehe ich, immer doch in einer wohltemperierten Spannung der Geschlechter, die dafür sorgt, dass auch das Sexuelle und damit die fundamentale körperliche Dimension der Verbundenheit nicht flöten geht; aber das eben doch entspannter und gelassener.
Und so ist unsere Ehe auch nicht von der Angst befeuert, den sexuellen Gegenpol zu verlieren und niemanden mehr zu haben, mit dem sich die Geschlechterspannung zum Ausgleich bringen lässt. Damit geht dem Sex zwar eine gewisse Intensität verloren, dafür aber bekommt er eine spielerische, leichte Tönung. Wenn wir zusammen im Bett sind, ist dies mehr eine Feier unserer Verbundenheit, die sich dann endlich einmal wieder körperlich ausdrücken kann. Ganz frei, ganz heiter. Keiner ist das Überdruck-Ventil des anderen, sondern wir begegnen uns als in sich ausbalancierte Wesen, die nun in körperlicher Resonanz schwingen. Das ist ein Fest. Life ist good.
So können wir uns aneinander freuen und aneinander wachsen; einfach weil wir an nichts so gut wachsen können wie an dem, was anders ist als wir selbst. Dann vertieft das nicht nur unser beider Beziehung, sondern ebenso meine und deine seelische Schönheit. Auf diese Weise bildet sich unsere Gemeinschaft, die von einer innigen Liebe getragen ist, immer neu. Wir können aus freien Stücken immer aufs Neue Ja zu einander sagen – und ebenso zu den Menschen unserer Umgebung, den Kindern, den Freunden, den Verwandten, den Nachbarn, ja, am Ende zur ganzen Welt.
Natürlich ist das ein anderes Ja als das, mit dem wir damals zusammen vor den Traualtar traten. Dieses Ja war zu einem Gutteil das Ja von Ich zu Ich, die sich entschieden hatten, für einander da zu sein und sich kraft ihres Willens aufeinander zu verpflichten. Das war damals gut und richtig, und dieses Bündnis besteht weiterhin fort. Aber das, was uns verbindet, hat sich mit den Jahren vertieft. Es ist jetzt nicht mehr so sehr unser Bedürfnis nach Stabilität und verbindlicher Dauer; sondern die gewachsene und erfahrene Verbundenheit unserer Seelen. Wir sind nicht deshalb auchnach 15 Jahren noch ein Paar, weil wir Angst davor haben, sonst allein zu sein oder einander zu verlieren, sondern weil es unserem Verbundensein entspricht, an einem gemeinsamen Ort, in geteilter Intimität auf eine uns beglückende und erfüllende Weise zu leben. Wir sind gemeinsam in der Liebe, auch wenn diese Liebe sich ebenso im Laufe der Jahre gewandelt hat. In ihr ist immer noch derselbe Eros mächtig, der erst unsere Körper für einander entflammte und dann unsere Ichs
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