Hinter blinden Fenstern
du denkst.«
»An dich, mein Herzensriese.«
»Du denkst an deine Arbeit und ob du nicht doch am Wochenende hättest fahren sollen.«
Nachdem Ann-Kristin Seliger aus ihrem Beruf als Journalistin ausgestiegen war – freiwillig und unfreiwillig zugleich, weil sie nicht länger unter ihrem Niveau und noch dazu schlecht bezahlt arbeiten wollte –, hatte sie die Prüfung zum Taxischein bestanden und fuhr seither für das Unternehmen Isarfunk, meistens bei Nacht. Seit dreizehn Jahren übte sie diesen Job aus, und es gab Phasen, in denen verdiente sie nicht mehr als fünfzehnhundert Euro im Monat, und jeder Mann, der bei ihr einstieg, versuchte sie anzugraben oder mit zweideutigen Bemerkungen aus der Reserve zu locken. Es gab Nächte, in denen sie an den beleuchteten Schaufenstern der Designerboutiquen und den in Zweierreihen geparkten Karosserien vor angesagten Restaurants und Bars vorüberfuhr und nicht anhalten konnte, wenn jemand am Straßenrand winkte, weil sie sich unzugehörig vorkam, alt und einsam und ausgelaugt und arm. Aber dann dachte sie an die Dinge, die sie aus ihrem früheren Beruf getrieben hatten, und sie wußte, nicht für fünftausend Euro im Monat würde sie dahin zurückkehren und auf die Reisen durch die Träume ihrer Stadt verzichten, und auf die Freiheit ihrer Existenz, in einer Wirklichkeit aus erster Hand.
Außerdem, fand sie, hatte sie mit ihrer letzten Reportage für die Seite 3 einer großen Tageszeitung mehr erreicht als jede andere Nacherzählerin von Wirklichkeiten – das wahre Herz eines Menschen.
Dieser Mensch hatte nach neun Jahren in einem Benediktinerkloster beschlossen, seinen alten Beruf wieder aufzunehmen und eine zusätzliche Ausbildung zu absolvieren, um schließlich in eine Abteilung zu wechseln, in der er schon als junger Mann gern gearbeitet hätte. Mit dem Auftrag, ein Porträt über diesen Mann zu schreiben, der nach fünf Jahren als einfacher Streifenpolizist zum Mönch wurde und nach seinem Ausscheiden aus dem Orden zum Hauptkommissar in der Mordkommission aufstieg, hatte sie in der Presseabteilung des Polizeipräsidiums um einen Termin gebeten.
Inzwischen waren dreizehn Jahre vergangen, und ihre Liebe hatte nicht gelitten.
»Ich bin froh, daß ich am Wochenende nicht fahr, wenn Oktoberfest ist«, sagte sie.
»Du verschenkst jedes Jahr viel Geld.«
»Sonst sorgst du dich immer, wenn ich nachts unterwegs bin, aber die Besoffenen sind dir egal.«
Polonius Fischer drehte sich zur Seite, legte den Arm um sie und küsste ihren Busen. »Nein, ich sorge mich trotzdem. Du hast dich nur beklagt, daß die Geschäfte schlecht laufen.«
»Wird schon wieder besser.« Wenn er sie so küßte, zerplatzten ihre Gedanken und sie bekam unbändigen Durst.
Nach einer Weile hörte er auf.
»Kannst ruhig weitermachen«, sagte sie mit geschlossenen Augen.
Aber er stand auf, ging zum Tisch und trank aus einem Wasserglas. Er hielt die Flasche hoch. Ann-Kristin schüttelte den Kopf.
Sie verschränkte die Arme und zog die Beine an den Körper.
»Neulich hab ich einen Mann in den Club gefahren, wo der Mann verblutet ist. Da ist mir wieder eingefallen, was du mir damals über die Frau erzählt hast, die ihn mißhandelt hat.«
»Sie hat ihn nicht mißhandelt. Was habe ich dir erzählt?«
»Daß die Frau was verbirgt und du sie eigentlich für schuldig hältst.«
»Das habe ich bestimmt nicht gesagt.« Er blieb vor dem Bett stehen.
»Jedenfalls haben dich ihre Hände beschäftigt.«
»Hände erzählen Geschichten«, sagte er. »Und oft nicht dieselben wie der Mund.«
Nach einem Blick auf seinen Körper befeuchtete sie mit der Zunge ihre Lippen, rutschte ein Stück nach unten, drehte sich auf den Bauch und spreizte die Beine. »Dann fang an zu erzählen, und zwar mit allem, was du hast.«
Hinterher blieb er auf ihr liegen, bemüht, sie mit seinem Gewicht nicht zu arg zu beschweren, den Kopf in ihren verschwitzten Haaren.
Und er dachte wieder an die Hände von Clarissa Weberknecht, an die weißen Narben auf ihren Händen und an die Art, wie sie damals im P-F-Raum durch die Luft geschlagen hatte. Als würde sie nicht eine bestimmte Person meinen, sondern sich selbst.
5 Einer, der nicht mehr dazugehört
M it soviel Glück hatte er nicht gerechnet. Er sah aus dem Fenster und sah sie. Irritiert trat er einen Schritt zurück und streckte den Kopf vor, von einer Erregung erschüttert, die er nicht erwartet hatte. Die Frau an der Tür hinter ihm beobachtete ihn eine Weile, dann
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