Hinter blinden Fenstern
festgeschraubten Männern, von denen einer – das fiel Gregorian sofort auf – weniger redete als die anderen. In der Nische bei der Eingangstür stand ein Stehtisch mit einem Hocker, auf dem nie jemand Platz nahm. Gregorian fand die Ecke passend für sich. Und so kam es, daß er vom ersten Mal an dort sein Bier trank, im Stehen, neben dem Hocker.
Bei seinem dritten oder vierten Besuch stellte er sich automatisch wie ein Stammgast an seine Stelle, und Maria brachte ihm unaufgefordert sein kleines Bier und verlor weiter kein Wort.
Einen Tag vor Heiligabend – am ersten Dezember war Gregorian in die Riesenfeldstraße gezogen – wandte sich der schweigsame Mann, der immer am Rand des Tresens saß, zu dem einsilbigen Gast bei der Tür um, schien einen Moment zu überlegen, griff nach seinem Glas und rutschte vom Hocker. Ohne das geringste Anzeichen von Freundlichkeit oder Kumpelhaftigkeit stellte er sein Weizenbier auf dem Stehtisch ab.
»Fallnik«, sagte er, »wir wohnen im gleichen Haus.«
Das wußte Gregorian. »Wirklich? Das wußte ich nicht.«
Danach schwiegen sie.
Wenn sie zufällig gleichzeitig tranken, prosteten sie sich stumm zu. Aus den Lautsprechern erklang Radiomusik, deutsche und englische Schlager, dazwischen Nachrichten, die die Wirtin leiser stellte, während sie mit einem Gast am Tisch weiterwürfelte. Ab und zu ertönte aus einem einarmigen Banditen eine Melodie. Die Männer am Tresen redeten in Intervallen aufeinander ein, niemand schien dem anderen zuzuhören. Dann schwiegen sie wie beleidigt, bevor einer von ihnen eine neue, grimmige Bemerkung fallenließ und die anderen zu eigenartigen Kommentaren herausforderte. An diesem späten Nachmittag wetterte einer gegen etwas, das Gregorian nicht verstand, weil alle durcheinander redeten und Maria die Musik mit der Bemerkung lauter drehte, ohne die Tremeloes hätte sie ihre Jugend nicht überstanden.
»Was halten Sie davon?« fragte Fallnik.
»Wovon?«
»Von der Kamera.«
»Welche Kamera?«
Fallnik leerte sein Weißbierglas und hielt es hoch. Und weil die Wirtin mit Würfeln beschäftigt war, ging er zum Tresen und stellte das Glas geräuschvoll neben die Spüle. Außer Maria sahen alle zu ihm hin.
»Die Kamera am Ring«, sagte Fallnik, als er zum Stehtisch zurückkam. »Die Polizei läßt unser Viertel überwachen.«
»Warum?«
»Wir sind neuerdings ein Brennpunkt.«
»Was brennt?« Plötzlich mußte Gregorian daran denken, daß morgen Weihnachten war. Sein Magen begann zu rumoren, seine rechte Hand zitterte, er versteckte sie hinter dem Rücken und hielt mit der linken sein leeres Glas fest.
»Der Dealer und der Penner«, sagte Fallnik.
»Bitte?«
»Bei uns wird gedealt, und die Dealer sind alle unter dreißig. Auswüchse. Deswegen: Kontrolle und Abschreckung.«
Sein Blick streifte die Wirtin, die aufgestanden war und ihren Würfelbecher im Stehen auf den Holztisch knallte. Ohne die Miene zu verziehen, hob Fallnik die Hand. »Gute Sache. Was meinen Sie?«
Sein halbes Leben hatte Gregorian mit den unterschiedlichsten Arten von Überwachung verbracht. Er hatte sein Geld damit verdient und selten darüber nachgedacht, welchen Zweck seine Arbeit erfüllte, abgesehen von dem einen, ihn zu ernähren. Kameras auf öffentlichen Plätzen nahm er schon lange nicht mehr wahr, genausowenig wie Zivilpolizisten oder seine ehemaligen Kollegen, die vor gefährdeten Gebäuden oder in U- und S-Bahnen patrouillierten. Er gehörte nicht mehr dazu, er hatte keinen offiziellen Auftraggeber mehr. Er war in Rente. Und das einzige, was ihm noch Antrieb verschaffte, ging niemanden etwas an.
»Auch noch eins?«
Vor lauter Gedanken hatte er seine Umgebung vergessen. Das passierte ihm in jüngster Zeit öfter, und es beunruhigte ihn.
»Und einen Underberg«, rief er.
»Schon gut, schrei nicht so«, sagte Maria hinter dem Tresen.
Jetzt erst fiel Gregorian auf, daß es ruhiger geworden war. Die Männer am Tresen stießen nur noch selten finstere Laute aus, und im Radio sang eine Frau mit samtener Stimme eine Cowboyballade.
Gregorian spürte den Alkohol, seine Hand zitterte stärker, er wollte bezahlen, aber er wagte nicht, sich von der Stelle zu bewegen.
»Morgen mach ich um sieben zu, merkt euch das.« Maria stellte die Getränke hin und sah die beiden Männer an.
Gregorian schätzte sie auf Mitte fünfzig. Sie hatte wellige braune Haare mit rötlichen Strähnen und rote, rissige Wangen. Sie versuchte, ihr Alter zu überschminken, aber wenn sie redete
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