Hinter blinden Fenstern
ihren Wunsch hin – behandeln lassen. Nur wegen ihr. Solche Spiele erregten ihn nur mäßig. Er schlief lieber mit Frauen, als sich von ihnen quälen zu lassen. Er hatte lieber echten Sex als eingebildeten. Aber Clarissa zwang ihn dazu. Er begehrte ihre Nähe, ihren Geruch, ihre Hände, das Aneinanderklatschen ihrer Brüste. In der Stunde, die er mit ihr im ersten Stock verbrachte, durfte er sie nicht ansehen. Sie verband ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen und band ihn ans Kreuz oder an die Bettpfosten, und er fügte sich und gab untertänig die Antworten, die sie erwartete. Und er schaffte es im richtigen Moment zum Höhepunkt.
So unerklärlich ihm sein sexuelles Verhalten in Clarissas Gegenwart geblieben und obwohl er sich oft gedemütigt und lächerlich und unmannhaft vorgekommen war, so unvorstellbar belanglos erschien ihm sein Leben ohne sie. Und er meinte nicht nur das Leben als Mann in erregtem Zustand, sondern sein Leben überhaupt, jeden Tag, innerhalb und außerhalb des Clubs Dinah, vor allem außerhalb, mit geregeltem Einkommen und normalen Angewohnheiten. Das Leben, das ihm gehörte und das bis zu dem Moment, als ihm in der Zeitung die Anzeige eines neu eröffnenden Clubs aufgefallen war, aus einer Abfolge absolut durchschnittlicher Handlungen bestanden hatte.
Dieses Leben, das ihn bald maßlos überforderte – und er benötigte vier Jahre, um zu begreifen, was mit ihm geschah –, verwandelte ihn jedoch in einen geprügelten Hund, der in seiner windigen Eineinhalbzimmerwohnung in der Plinganser Straße heulte und hechelte und auf allen vieren durch seine Einsamkeit kroch. In seinen Träumen winselte er, wenn sie ihm wieder erschien und ihn zum Teufel jagte.
Jahrelang.
Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.
Bis er vor Selbstekel keine Luft mehr bekam. Bis er beinah aus dem Fenster gesprungen wäre. Er kniete schon auf dem Fensterbrett und fürchtete sich nicht.
Dann fürchtete er sich doch. Er streckte die Beine ins Zimmer zurück, glitt auf den Teppichboden, legte sich vor das kalte Gerippe der Heizung und verschlief den Tag und die folgende Nacht.
Dann stand er auf und beschloß zu handeln.
Es war August und die Stadt ein großer Süden. Und er schlenderte durch die nach Asphalt riechenden, besonnten Straßen und spürte, wie er wuchs und wieder ein Mann wurde. Ein Mann außerhalb des Durchschnitts. Ein Mann mit Bestimmung.
Am ersten Tag in Milbertshofen hatte er keine Eile.
Nachdem die Frau – Clarissa oder eine andere – nicht mehr zu sehen war, setzte er sich auf das beige Sofa, das man zum Schlafen ausklappen konnte, streckte die Beine aus und legte die Arme auf die Rückenlehne. Außer dem Sofa hatte das Möbelhaus einen runden weißen Wohnzimmertisch aus Kunststoff, zwei Korbstühle mit Armlehnen, einen verspiegelten, dreitürigen Schlafzimmerschrank, einen viereckigen Küchentisch und zwei Holzstühle geliefert.
Bertold Gregorian blickte zur Tür. Eine banale Wohnung, immerhin mit einer vollständig eingerichteten, von der Putzkolonne eindrucksvoll gesäuberten Küche und einem Badezimmer mit Wanne und einer neuen Toilettenschüssel. Sogar der graue Auslegeteppich sah nach dem Shamponieren beinah ansehnlich aus.
Gregorian strich mit den Schuhsohlen über den Teppich und erschnupperte den Geruch nach Reinigungsmitteln und neuen Möbeln. Der Mietvertrag lief unbefristet. Bei der Verabschiedung hatte die Maklerin ihm in die Augen gesehen, länger, als es nötig gewesen wäre. Eine Alleinige wie die meisten, dachte er und nickte.
Er beugte den Oberkörper nach vorn, verharrte und stand mit einem Ruck auf. Er wollte jetzt rausgehen und unauffällig sein. Er wollte den Nachmittag in »seinem« Viertel verbringen. Und wenn sie das Haus verlassen hatte, würde er eine Zeitlang in ihrer Straße auf und ab laufen, aus Übermut.
Das tat er dann nicht.
Sich übermütig zu verhalten paßte nicht zu ihm. Und aus Wut, weil er tatsächlich schon in Richtung Anhalter Straße unterwegs gewesen war, kehrte er in einem Stehausschank ein und trank hastig ein kleines Bier und einen Kräuterschnaps. Und als die Wirtin ihn fragte, bestellte er noch einmal dasselbe.
Die Kneipe hieß Marienstüberl.
Obwohl er sein Leben lang vermieden hatte, irgendwo Stammgast zu werden, führte ihn sein Weg während der nächsten Tage und Wochen immer wieder in die verrauchte Kneipe mit den zwei blinkenden Spielautomaten, dem trostlos vor sich hin grünenden Gummibaum und den fünf am Tresen
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