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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hüstelte sie und raschelte mit den Blättern in ihrem Aktenordner.
    Bertold Gregorian stand weiter wie erstarrt da, nach vorn gebeugt, keuchend.
    »Entschuldigung?«
    Er reagierte nicht.
    »Herr Gregorian?«
    Er atmete aus, wie jemand, der lange die Luft angehalten hat, schüttelte den Kopf, kratzte sich am Hals und wandte sich halb um. »Bitte? Ja?«
    »Alles in Ordnung, Herr Gregorian?«
    »Sind wir dann fertig?« fragte er mit belegter Stimme.
    »Wir können gehen.«
    »Ich bleib noch.«
    Er streckte der Maklerin die Hand hin und begleitete sie durch den schmalen Flur. Dann schloß er die Wohnungstür und kehrte in das leere Zimmer zurück und stellte sich wieder ans Fenster und blickte hinüber zum nackten Rücken der Frau.
    Das ist sie doch nicht! dachte er plötzlich.
    Er schaute hinunter in den Innenhof mit den schäbigen Bänken und Spielgeräten, und als er den Kopf hob, war die Frau verschwunden Aber daß er eine Wohnung ausgerechnet im zweiten Stock der Anlage bekommen hatte, auf gleicher Höhe mit ihrer Wohnung, versetzte ihn in eine Stimmung, in der er am liebsten in die Luft geboxt und gierige Laute ausgestoßen hätte.
    Ursprünglich hatte er nur nach einer Bleibe in ihrer Nähe Ausschau gehalten, in einem der Blocks in ihrer unmittelbaren Umgebung – Konstanzer Straße, Pommernstraße, Anhalter Straße, keine bestimmte Hausnummer. Bald konzentrierte er sich auf die Anhalter Straße. Doch die einzige Wohnung, die dort im Lauf eines Jahres frei wurde, bekam ein anderer Bewerber, allerdings lernte er auf diese Weise eine Maklerin kennen, die er bat, sich bei ihm zu melden, falls ihr ein entsprechendes Angebot vorläge. Trotzdem suchte er auf eigene Faust weiter und fand ein Appartment in der Usedomer Straße, das er gemietet hätte, wenn nicht am selben Tag die Maklerin angerufen und ihm von einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Riesenfeldstraße erzählt hätte, die ab nächstem Monat frei wäre.
    Er sagte sofort zu und versprach der Maklerin eine Bonuszahlung von tausend Euro, verknüpft mit der Bitte, das Objekt niemandem sonst anzubieten. Was reizt Sie an dieser nicht gerade prickelnden Ecke Münchens? fragte sie bei der ersten Besichtigung, und er: Ich bin hier aufgewachsen, mitten im Krieg. Verstehe, sagte sie. Und er lächelte und reichte ihr ein Kuvert mit fünf Zweihunderterscheinen.
    Und zu seiner absoluten Überraschung lag die Wohnung im zweiten Stock, sie war heruntergekommen und roch nach Schmutz und Schweiß. Überall standen Plastiktüten mit Abfall und braune Kartons mit Dingen, die niemand mehr brauchte. Der Vormieter war nach einer Räumungsklage verschwunden, und die Maklerin mußte mehrere Telefongespräche mit der Vermietungsgesellschaft führen, bevor diese sich bereit erklärte, sowohl eine Umzugsfirma als auch einen Putzdienst zu engagieren und die Wohnung in einen vermietbaren Zustand zu bringen. Die Wände ließ Gregorian auf eigene Kosten weiß streichen, er beauftragte einen Bekannten, der Maler von Beruf war und schwarz für ihn arbeitete. Einen Nachmieter für seine alte Wohnung in der Plinganser Straße fand er innerhalb weniger Tage über eine Firma, für die er einmal gearbeitet hatte, und der Mann übernahm sein Sofa, seinen Wohnzimmertisch und ein paar kleinere Einrichtungsgegenstände. So konnte Gregorian sich in der Riesenfeldstraße aufs Nötigste beschränken, und er achtete darauf, nur Möbel zu kaufen, die wenig Platz beanspruchten. Er brauchte Luft um sich, er ging gern auf und ab, stundenlang, die Hände in den Hosentaschen, formte Gedanken, schmiedete Pläne, fokussierte seine Konzentration auf ein bestimmtes Vorhaben, auf eine Idee, auf eine Tat. Auf eine große Befreiung.
     
    Am Tag der Schlüsselübergabe blieb er eine Stunde in dem leeren Zimmer und überlegte. Ob auf der anderen Seite tatsächlich Clarissa am Fenster gestanden hatte? Nackt hatte er sie noch nie gesehen. An der Bar trug sie meist eine weiße, durchsichtige Bluse und darunter einen schwarzen BH, der ihre schweren Brüste, wie er jedesmal von neuem hingebungsvoll gedacht hatte, schweben ließ. Er hatte sie angestarrt, und sie hatte ihn gewähren lassen, aber wenn er ins Séparée wollte, mußte er sich meist für eine ihrer Kolleginnen entscheiden. Das ärgerte ihn, und dann knallte er manchmal seine Kreditkarte auf den Tresen, bezahlte seine Zeche und verschwand.
    Am Anfang war er einer ihrer bevorzugten Kunden gewesen, sie hatte ihn mit in den ersten Stock genommen, und er hatte sich – auf

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