Hinter blinden Fenstern
wetten.«
»Gefällt dir der Beruf nicht?« Es gelang Gregorian, sein Portemonnaie aus der Innentasche seiner Wildlederjacke zu ziehen und es zu umklammern.
»Wir hatten schon Jahre …« Fallnik senkte die Stimme, obwohl die Musik wieder lauter geworden war. »… Da bin ich in der Mittagspause in den Dom und hab mich nicht erblödet, mich hinzuknien und so was wie ein Gebet aufzusagen. Lieber Gott, wirf einen anderen Job vom Himmel, stell dir das vor. Ein erwachsener Mann, der sich anstellt wie ein Hutzelweib vom Land, das jeden Sonntag seinen Rosenkranz abstaubt und dem Pfarrer Oblatten aus der Hand frißt. So tief unten war ich, ich schwör’s dir, Bertram. Bertold. Aber …«Er nahm das Glas, setzte es an die Lippen und schlürfte. »… Wer nix Gescheites lernt, wird auch nicht gescheit. Alte Weisheit. Trinkst noch eins?« Er war schon unterwegs.
»Ich muß gehen«, sagte Gregorian.
Am Tresen wartete Fallnik auf die zwei Biere und brachte sie dann zum Stehtisch. »Prost. Jetzt weißt du Bescheid. Jetzt bist du dran.«
In wenigen Schlucken trank Gregorian sein Glas zur Hälfte aus. Er winkte der Wirtin. »Ich hatte mal bei Weinher zu tun«, sagte er. »Sicherheitsdienst. Allerdings in der Damenabteilung.«
»Die klauen sich ja gegenseitig die Fetzen vom Leib«, sagte Fallnik mit keifender Stimme. »Die sind so raffiniert … Sicherheitsdienst? Bist du bei der City Security?«
Gregorian legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch.
»Da war ich auch, aber hauptsächlich bei kleineren, privaten Firmen. Ich bin nicht mehr im Dienst. Wieviel?«
Maria brachte einen sauberen Aschenbecher und stellte fest, daß keiner der beiden Männer rauchte. »Genau zehn« , sagte sie. »Ihr seid die einzigen Passivraucher bei mir. Ihr schädigt die Tabakindustrie, wißt ihr das?«
»Dreizehn«, sagte Gregorian.
»Zahl morgen«, sagte Maria. »Oder kommst du morgen nicht? Es gibt frische Fleischpflanzerl. Aber nur bis sieben, dann sperr ich ab und fahr zu meiner Mutter ins Altersheim.«
Morgen komme ich bestimmt nicht, wollte Gregorian sagen. Aber er sagte nichts. Er steckte den Schein in die Hosentasche, verabschiedete sich und ging.
Auf der Straße verlor er für einen Moment die Orientierung. Nach einigen Metern blieb er stehen, schlug den Fellkragen seiner Jacke hoch. Er hatte die verkehrte Richtung eingeschlagen, auf die Kreuzung zu, von der Fallnik gesprochen hatte, wo angeblich die Kamera stand. Oder hing.
Eigentlich war er neugierig. Aus alter Gewohnheit, aus geübtem Interesse an den Möglichkeiten der Täterabschreckung. Gefühlte Sicherheit, nannten seine Kollegen heute das, was ihre Auftraggeber erwarteten. Nein: Sie erwarteten absolute Sicherheit, und was sie in Wahrheit bekamen, war gefühlte Sicherheit. Zu seiner Zeit waren sie zu genau demselben Zweck engagiert worden, nur die Formulierung lautete anders. Damals hieß es Schutz für Leib und Leben, oder: Rundumbewachung. Vorher redeten sich die Leute Angst ein, hinterher, nachdem sie den Vertrag unterschrieben hatten, redeten sie sich Sicherheit ein. Und die Branche boomte und eine Handvoll Firmen sahnte ab. Für ein solches Unternehmen hatte er nie gearbeitet. Die Gründe dafür lagen auf der Hand, aber er wollte sie lange nicht wahrhaben, zu lange. Und als er endlich kapierte, weshalb die großen, aufregenden, gefährlichen Einsätze ohne ihn stattfanden, weigerte er sich immer noch, die Wahrheit zu akzeptieren. Statt dessen schickte er weiter Bewerbungen ab oder sprach persönlich vor oder bat Kollegen, ein Wort für ihn einzulegen.
Er fror. Ein eisiger Wind blies ihm Staub in die Augen. Er schrie auf vor Schmerz. Auf der anderen Straßenseite blieb ein Mann stehen, der seinen Hund ausführte, und rief: »Hallo?«
»Hallo«, schrie Gregorian zurück, während er mit der linken Faust wütend in seinen Augen rieb und ausspuckte.
Diese Situation kannte er bis zum Erbrechen. Und unwillkürlich krümmte er den Oberkörper und würgte und hustete mit aufgerissenem Mund Schleim auf den Asphalt.
Das waren die Situationen, in denen er vor Verachtung keine Luft bekam, in denen er alles ausspucken wollte, was in ihm steckte, Eingeweide, Gedärme, seine verdreckten Lungen, seinen vergifteten Magen, seine verschrumpelte Leber, den ganzen verfluchten Kleinmut, sein Deppengehirn, seinen Zorn und den Ekel, wenn er in den Spiegel schaute und ihm dieses eingefallene, schäbige, nichtsnutzige Gesicht entgegenglotzte mitsamt seinem Blödheitsblick zwischen
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