Hinter blinden Fenstern
München – der unaufhörliche Redefluß strömte durch Gregorians Kopf wie die sentimentalen Schlager aus dem Radio. Wenn Fallnik innehielt, um ein neues Bier zu bestellen, hatte Gregorian alles vergessen.
Am Ende war er vermutlich der erste Gast im Marienstüberl, der einen Abend lang nur zwei kleine Biere konsumiert hatte, noch dazu am Heiligen Abend.
Unfaßbar, daß er tatsächlich gekommen war. Bei der Verabschiedung drückte Maria ihn an ihren Körper, den er sofort als abstoßend empfand, küßte ihn auf die Wange und strich ihm mit dem Zeigefinger über den Scheitel. Am liebsten hätte er geschrien. Über ihre Mutter, die sie eigentlich im Altersheim besuchen wollte, verlor die Wirtin kein Wort mehr, und niemand fragte sie danach, auch Gregorian nicht, obwohl es ihn interessiert hätte. Er traute ihr zu, daß sie ihre Mutter einfach vergessen hatte. Er traute jedem Menschen zu, jemanden zu vergessen.
Nur ihm gelang das nicht.
Er bildete sich ein, jedes Gesicht, in das er jemals hatte schauen müssen oder das ihn niedergeglotzt hatte, im Notfall wiedererkennen zu können, bis zurück in seine frühe Kindheit, die er überlebt hatte, ohne daß er bis heute begriffen hatte, wieso.
Vom ersten Weihnachtstag an bis zum dritten Januar verließ Bertold Gregorian seine Wohnung nur nach sechzehn Uhr, wenn es schon dunkel war. Er kaufte Konserven, abgepacktes Brot und Sixpacks, füllte seine Vorräte von löslichem Kaffee, haltbarer Milch und süßen Oblaten auf und blieb wachsam. Unter keinen Umständen wollte er jemandem begegnen oder mit jemandem sprechen müssen. Bevor er die Tür öffnete, warf er jedesmal einen Blick durch das Guckloch und lauschte ins Treppenhaus, das Ohr an die Tür gepreßt.
Am achten Januar, einem Montag – das Wochenende hatte er mit nichts als Fernsehen und der Beobachtung des Fensters auf der anderen Seite des Innenhofs verbracht –, brauchte er dringend Toilettenpapier. Und weil er über seine Schlamperei, daß er nicht rechtzeitig daran gedacht hatte, sofort zornig wurde, riß er die Wohnungstür auf und stürzte ins Treppenhaus.
»Servus«, sagte Arthur Fallnik.
Noch Tage danach erschien Gregorian die rundliche Gestalt im schwarzen Anorak und mit der beschirmten Mütze wie ein Gespenst, das, schlecht riechend, aus der Finsternis kam und ihm den Weg versperrte.
Im Treppenhaus war es dunkel. Fallnik stand so dicht vor Gregorian, daß dieser wegen des Geruchs nach billigem Rasierwasser niesen mußte und sich in einem Reflex die Nase zuhielt. Dafür genierte er sich im nächsten Moment, aber der Schrecken raubte ihm jede Kontrolle.
Gregorian machte einen Schritt zur Seite, wandte den Kopf zur halbgeöffneten Tür, streckte den Arm aus, ließ ihn sinken und trat einen Schritt zurück. Dann schnellte sein Arm zur Wand. Hastig tastete er nach dem Lichtschalter, fand ihn nicht, schniefte und starrte seinem Nachbarn aus dem dritten Stock, der ihn reglos musterte, ins Gesicht und blieb mit der Schuhspitze an der Kante des Fußabstreifers hängen. Er gab einen kehligen Laut von sich, hüpfte auf die Tür zu und benötigte beide Arme, um am Türrahmen gerade noch Halt zu finden.
Mit einer unkontrollierten Drehung fuhr Gregorian herum, wankte und drückte aus Versehen mit der rechten, flatternden Hand auf den Lichtschalter.
»Ich wollt dich nicht erschrecken, Big Bert«, sagte Fallnik ausdruckslos.
Den Spitznamen überhörte Gregorian zuerst.
»Wir haben dich vermißt«, sagte Fallnik, immer noch ohne Anzeichen einer Bewegung.
»Wo vermißt?« Die zwei Worte kamen Gregorian mit größter Anstrengung über die Lippen.
»Im Stüberl, wo sonst? Alles gut, Big Bert?«
Seit wann, fragte Gregorian sich verwirrt, wurde er so genannt? Er dachte nach, während der andere weiterredete.
»Rappelvolle Hütte an Silvester. Und Susi hat einen Strip hingelegt, da wär sogar dir die Hose geplatzt.«
»Welche Susi?« Sein Herz raste, in seinem Kopf herrschte Aufruhr.
»Die Kusine von der Maria. Die auch schon Weihnachten kommen wollt, aber dann mußt sie arbeiten. Arbeiten. An Weihnachten. Die ist doch Krankenschwester, und wenn die sich die Kleider vom Leib reißt, wünscht du dir, du wärst ewig krank, bloß da unten nicht. Ich muß weiter. In nächster Zeit werd ich nicht so oft ins Stüberl kommen. Muß für einen Kollegen einspringen. Der hat sich bei einem Autounfall beide Haxen gebrochen. Direkt am Stachus, Ecke Bayerstraße. Ein Wahnsinn. Nachts um drei. Kaum was los. Der Hannes,
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