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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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zurückgeworfenem Kopf und der Faust im Mund in sich hinein. Dann lächelte er gequält.
    »Normal«, sagte Gregorian, und seine Stimme klang wie das Echo einer Stimme. »Das war das Wort meiner Jugend. Einmal habe ich ihn gefragt, wer bestimmen würde, was normal ist und was nicht. Da hat er mir die Hand gebrochen. Die rechte. Die hier, die eh schon kaputt war. Er packte sie, drehte sie rum und es knackte. Manchmal wache ich von diesem Knacken heut noch auf. Drei Wochen Krankenhaus. Meine Mutter hat mich angesehen, als wäre ich schuld, daß sie jeden Tag kommen muß und mich trösten. Viel geweint. Vor Einsamkeit. Ich war aber nicht allein im Zimmer, ist ja logisch.
    Aber ich war allein im Bett. Habe mir eingebildet, ich wäre der Oberalleinigste auf der Welt. Kinder bilden sich so was ein. Kein Problem. Meine Hand ist schlecht geheilt, die war eh kaputt schon. Ich hab den Gips nicht vertragen, hab einen Ausschlag gekriegt. Auch das noch. Mein Vater hat mich nicht besucht, das war normal. Dafür mußte meine Mutter jeden Tag mindestens zwei Stunden an meinem Bett sitzen, weil ich sonst nicht aufgehört hätte zu heulen. Mir liefen die Tränen automatisch aus den Augen. Und ich war schon dreizehn. Ein Junge. Eine einzige Heulboje. Im Dezember war das, alle waren Schlittenfahren im Luitpoldpark auf dem Schuttberg. Ich mußte im Bett bleiben. Am zwanzigsten Dezember bin ich rausgekommen, aber es gab sowieso keine Geschenke. Kein Geld, hieß es. Als Sekretärin bei dem Doktor Wink hat meine Mutter nicht viel verdient, der hat sie ausgenutzt, das hat jeder gewußt, bloß sie nicht. Mein Vater war Portier, angeblich konnte er gut mit den Gästen umgehen, auch mit den vornehmen, die sind ja die wichtigsten. Verdient hat er auch nicht viel. So war das, normal. Ich wollte unter Menschen sein, Clarissa, und so hab ich eine Ausbildung als Detektiv gemacht, das hab ich dir schon erzählt. Heut ist Weihnachten, da darf man Sachen auch zum zweiten Mal erzählen. Jetzt hätt ich gern was zu trinken, am liebsten ein kaltes kleines Bier. Warum bist du von mir weggegangen?«
    Wie ein Kind kniff er die Augen zusammen und schürzte die Lippen. Mit seinen übereinandergeschlagenen Beinen und der Art, wie er sich in die Sofaecke zwängte, sah er aus wie jemand, der sich vor etwas Schrecklichem fürchtet. So verknotet hatte Clarissa ihn noch nie erlebt.
    Sie brachte ihm ein Pils, und als er nicht reagierte, stellte sie das Glas auf das Tischchen neben der Couch.
    Der niedrige viereckige Tisch war aus demselben Material wie die meisten anderen Einrichtungsgegenstände, mit Ausnahme der Betten und der Geräte im Behandlungszimmer: aus grün schimmerndem Plexiglas. Auch der Tresen, der allein neunzigtausend Euro gekostet hatte. Das ist ein Spezialpreis, hatte Dinah beschwingt erklärt, die auf der Ausstattung bestanden und jeden Hinweis auf die nach Clarissas Meinung teilweise aberwitzig hohen Vorkosten mit der Bemerkung weggewischt hatte: Plexiglas hat Stil und ich will, daß unsere Zukunft Stil hat.
    Am Tag der Eröffnung hatte Clarissa unentwegt an ihre Schulden gedacht, die auch deswegen nicht weniger wurden, weil einer der Mitarbeiter der Bank, bei der sie den Kredit aufgenommen hatten, unter den Gästen war. Und Clarissa dachte daran, die Einrichtung wieder zu verändern und die Bar ein wenig normaler auszustatten.
    Normal. Nichts in diesem Haus war normal, dachte sie. Vom ersten Tag an, von der ersten Minute ohne Dinah war dieses Haus eine Welt außerhalb der Welt. Nicht wegen des Milieus, sondern: weil Dinah fehlte.
    Weil Dinah von ihrer Welt aus den Club Dinah nicht sehen konnte.
    Seit Dinahs Tod hatte Clarissa aufgehört, an das Glück zu glauben.
    Sie glaubte an das Kreisverwaltungsreferat, an das Ordnungs- und das Gesundheitsamt, an das Finanzamt, an die Qualität von Latex und gekühltem Sekt. Sie glaubte an das Wohlergehen ihrer Angestellten und die unsichtbaren Funktionstasten an männlichen Geschlechtsteilen. Sie glaubte an den Brief ihrer Bank, in dem ihr Schuldenstand irgendwann schwarz auf weiß bei null lag. Sie glaubte an die Treue ihres Geliebten Hans und an den Abschied von ihm eines Tages. Sie glaubte an den Augenblick und dessen Willkür. Sie glaubte an das, was sie glaubte, und daran, daß die Welt außerhalb der Plexiglaswelt in der Levelingstraße von Wesen aus Plastik bevölkert war, die ihr Herz zu wichtig nahmen und sich einbildeten, sie bekämen Pfand dafür.
    »Hörst du mich?« sagte sie. »Ich muß dir was

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