Hinter blinden Fenstern
wieder Furcht. Er war überzeugt, daß es nicht die Furcht vor der Polizei war oder vor dem Verbrechen, das er an dem sechzehnjährigen Mädchen verübte. Nicht die Furcht, erwischt und von der Presse und den Leuten verachtet zu werden. Nicht die Furcht vor etwas, das er in den nächsten Tagen und Wochen in seinen eigenen vier Wänden womöglich tun würde.
Es war die vage und unangenehme Furcht vor dem Mädchen selbst, vor ihrer Art, vor ihrer Stimme, vor ihrer Haut.
Nachdem sie ihn im Dunkel unter dem Baum entdeckt hatte, war sie entschlossen auf ihn zugegangen, hatte ihm eine Flasche Bier in die Hand gedrückt und gesagt: Prost Neujahr, Sie können gern mit uns mitfeiern, ich hab Sie schon die ganze Zeit beobachtet, Sie sind etwas schüchtern.
Er hielt die Flasche noch fest, als sie seine Hand nahm – die mit der Flasche – und ihn zur Gruppe ihrer Freunde führte, die auf dem Schuttberg laute Musik hörten und jede Rakete, die irgendwo in den Himmel schoß, mit Jubelschreien begleiteten. Um das große gußeiserne Kreuz drängten sich Schaulustige, die das Silvesterfeuerwerk über der Stadt beklatschten und mit ihren Flaschen anstießen und sich umarmten.
Wie heißt du? fragte sie und duzte ihn einfach.
Arthur, sagte er.
Und sie: Ich bin Linda, prost, Arthur.
Sie lächelte und trank. Und erst später fiel ihm auf, daß sie offensichtlich zwar eine Menge Leute kannte, aber zu den meisten auf eine besondere Weise Abstand hielt. Sie redete und lachte mit ihnen, doch sie wandte sich oft ab und schien mit ihren Gedanken allein zu bleiben.
Wohnst du hier in der Gegend? fragte sie.
Und er: Nein, bin so rumgefahren.
Bist du allein? fragte sie.
Und er: Ja, macht aber nichts.
Ich bin auch allein, sagte sie und wiegte sich zur Musik und vollführte Tanzschritte um ihn herum.
Heut bist du aber nicht allein, sagte er und trank die Flasche leer und überlegte, wohin damit. Und als hätte sie alles genau registriert, nahm sie ihm die Flasche aus der Hand, ging zu einer Parkbank, auf der Jugendliche hockten, stellte die Flasche in einen der vielen Kästen und nahm zwei neue heraus. Die Deckel schnippte sie mit einem Feuerzeug weg, das sie einem Jungen, der sich gerade eine Zigarette in den Mund steckte, ohne zu fragen, aus der Hand genommen hatte. Mit schmeidigen Bewegungen tänzelte sie zu Fallnik zurück.
Und du bist auch nicht allein, sagte sie, bist du verheiratet?
Nein, sagte er, dein Mantel gefällt mir.
Danke! rief sie, trank und hob die Schultern.
Sie trug einen schwarzen, fast bis zum Boden reichenden Ledermantel und schwarze Stiefel zur blauen Jeans. Ihre blonden Haare leuchteten im Dunkel und bildeten einen eigenwilligen Kontrast zu ihrer nachtfarbenen Kleidung.
Und sie hörte nicht auf, herumzutänzeln. Je länger sie ihn ansah, desto stärker wucherte ein Verlangen in ihm, von dem er augenblicklich wußte, daß es ihn übermannen würde. Zum erstenmal seit zwei Jahren, und damals war es kein echtes Verlangen gewesen, bloß ein Aufbegehren im Rausch. Die Frau – mindestens zwanzig Jahre jünger als er – hatte ihn so lange und so oft in der Kneipe berührt, bis er ihre Hand packte und zwischen seine Beine klemmte. Von da an war ihm alles egal gewesen.
Jetzt, in der Neujahrsnacht, auf dem begrünten Schuttberg im Luitpoldpark, war ihm nichts egal. Nicht ein einziges Wort, kein Blick, kein Lächeln, kein Schluck Bier. Vor allem nicht das Mädchen, das ungefähr dreißig Jahre jünger war als er und diesen Mantel trug, als wäre ihre Haut und das Schwarz ihrer Haut eine einzige Aufforderung, sie zu nehmen , zu besitzen.
Vier oder fünf Flaschen Bier hatten sie zusammen getrunken, zwei oder drei Stunden lang. Und sie erzählte ihm, sie gehe in der Nähe auf ein Mädchengymnasium, in den Weihnachtsferien habe sie ein soziales Praktikum in einem Seniorenheim gemacht und in vier Jahren wolle sie das Abitur schaffen. Sie sei zwar keine besonders gute Schülerin und in der sechsten Klasse durchgefallen, doch nun in der zehnten laufe alles besser als zuvor, und sie sei irgendwie motivierter.
Warum? fragte er.
Sein Herz schlug zu schnell, und er überlegte, ob sie zuschlagen würde, wenn er sie plötzlich küßte.
Ich bin mehr für mich, sagte sie, ich laß mich nicht mehr so ablenken, meine Eltern sind stolz auf mich.
Und du? fragte er, überrumpelt von der Idee, sie zu küssen, bist du stolz auf deine Eltern?
Sie sah ihn an, wie erschrocken, wie ertappt. Dann nahm sie einen langen Schluck aus
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