Hinter blinden Fenstern
Füße hatte er mit einer Paketschnur ans Bettgestell gefesselt, auf ihrem Mund klebte immer noch der breite braune Streifen, und sie trug dieselben Sachen wie am Nachmittag. Er hatte sie nicht ausgezogen. Das hatte er nie vorgehabt. Sie sollte sich erst eingewöhnen.
Er saß auf dem grün lackierten Holzstuhl, dessen Sitzfläche und Rücklehne aus einem geschwungenen Teil bestanden. Den Stuhl hatte er aus einem Hotel in Augsburg gestohlen, mühelos, das wußte er noch. Er hatte ihn im Aufzug in die Tiefgarage transportiert und in den Kofferraum geladen. Er hatte Spaß daran. Einer seiner Kollegen hatte am Abend vorher beim Bier erzählt, daß gewisse Hotelgäste Sofas und riesige Vasen klauten und nie erwischt wurden. Sein Schwager, berichtete der Kollege, betreibe ein angesehenes Hotel in Baden-Baden und klage seit Jahren über die Diebstähle von Leuten, die garantiert nicht arm seien.
Dagegen war der grüne Stuhl ein Furz.
»Liegst du bequem?« Er strich über die weiße, frisch gewaschene Bettdecke. Er hatte das Mädchen bis zum Hals zugedeckt, sie sollte nicht frieren und sich nicht schämen müssen.
Sie nickte wieder.
»Aufhören.«
Sie brummte in sich hinein, ruckte mit dem Arm, zappelte mit den Beinen.
»Wenn ich dir das Klebeband abnehme«, sagte Fallnik. »Bist du dann ruhig?« Er schlug die Beine übereinander und hielt dabei die Pistole fest, die er in den Schoß gelegt hatte.
Linda schnaufte heftig, ihr Gesicht war naß von Schweiß und Tränen.
Fallnik beugte sich so weit nach vorn, wie er konnte. »Ich kann dir nicht glauben.« Er lehnte sich wieder zurück.
Auf dem runden Glastisch neben dem Bett brannte eine Schirmlampe, sie tauchte das Bett in butterfarbenes Licht. Die grünen Vorhänge waren zugezogen, der Rest der Wohnung lag im Dunkeln.
Lindas schnelles, nervöses Schnaufen war das einzige Geräusch. Kaum hörbar, wie aus weiter Ferne, drang das Brummen des Straßenverkehrs herein. Das Schlafzimmer ging auf den Innenhof, in dem nachts um eins sogar im Sommer alles still blieb, abgesehen vom gelegentlichen Miauen einer verirrten Katze, die niemand im Wohnblock bisher zu Gesicht bekommen hatte. Einige nannte sie das Riesenfeld-, andere das Anhalterphantom, da das Tier offenbar am liebsten zwischen diesen beiden Straßen herumstreunte.
Fallnik strich die Daunendecke glatt. »Ich bin von Haus aus ein eher ungläubiger Mensch. Immer schon gewesen.«
Tränen rannen über Lindas Wangen. Sie zerrte an den Schnüren, warf den Kopf hin und her. Ihre blonden Haare flogen in wirren Wellen durch die Luft. Sie wollte etwas sagen, das Paketband wölbte sich sogar ein wenig.
Rote Flecken bedeckten das Gesicht des Mädchens, ihre Handgelenke hatten angefangen zu bluten. Schluchzend drehte sie den Kopf von Fallnik weg und wimmerte ohne Unterlaß, während er weiterredete.
»Damit du weißt, wo du dich befindest.« Er rückte mit dem Stuhl näher zum Bett. »Direkt unter mir wohnt Herr Gregorian. Rentner. Zwielichtige Person. Führt was im Schilde. Heut morgen hab ich ihn getroffen. Im Treppenhaus. Er raste aus seiner Tür raus und knallte fast mit mir zusammen. Hochroter Kopf. Wo wollte der hin? So früh? Ich wollt in den Baumarkt, Schnüre besorgen, Klebeband. Die nützlichen Dinge. Ich dachte, heut ist es soweit. Mit dir. Mit uns. Gregorian heißt der Mann, Big Bert. Ehemaliger Detektiv. Macht immer noch Aufträge, seine Rente kannst du dir vorstellen. Wahrscheinlich nicht. Du bist zu jung, um dir so was wie Rente vorzustellen. Wenn du mal so alt bist wie der Gregorian, gibt’s keine Rente mehr. Mußt du schauen, wo du bleibst, sonst bist du erledigt mit fünfzig. Und die Plätze unter den Brücken sind dann auch schon alle besetzt. In München kommen auf einen Reichen zwei Arme, und es werden mehr. Der Stadt sieht man das nicht an. Die Leute stehen Schlange bei den Essensausgaben, ohne die würden die Leute reihenweise verhungern. Wühlen in den Müllcontainern, finden nichts und krepieren. Die Leute schmeißen nichts mehr weg. Geh mal bei uns unten im Müllhäusl schauen: Verpackungen, Konserven, Plastik. Nichts zu beißen weit und breit. Früher haben die Penner und Landstreicher überall noch was rausgefischt. Heut ißt jeder alles selber auf bis zum letzten Krümel. Big Bert muß sehen, wie er rumkommt. Wahrscheinlich ist er deswegen so schlecht drauf, der hat Depressionen. Und eine Frau hat er auch nicht. Hab ihn mal gefragt, im Stüberl, wollt wissen, ob er Kinder hat. Nie gehabt. Nicht
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