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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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doch nicht, ehrlich. Die ist einfach weg in der Silvesternacht, erst ist sie zurückgekommen, und irgendwas war anders mit ihr. Sie hat so komisch geschaut, sie war nicht gut drauf. Und dann ist sie wieder weg, und ich hab sie am nächsten Tag angerufen. Sie hat gesagt, sie ist krank und würd im Bett liegen. Aber ihre Stimme klang nicht erkältet. Ich hab gedacht, okay, sie will ihre Ruhe, und sie wird sich schon wieder melden. Hat sie nicht getan. Also hab ich sie am nächsten Wochenende wieder angerufen, und da hat ihre Mutter mir ausgerichtet, Linda wolle allein sein und lesen und sich auf die Schule vorbereiten. Das hat die noch nie getan, niemand macht das. Wir sind doch keine Streber, bloß weil wir Mädchen sind und auf ein Mädchengymnasium gehen. Spinnt die halt, hab ich mir gedacht, mußt du sie lassen, die beruhigt sich schon wieder.«
    Ellen hielt inne, legte den Kopf schief und wandte sich um.
    »Schreiben Sie alles auf, was ich sag?«
    »Ja«, sagte Fischer anstelle von Valerie Roland. »Das bedeutet, Linda hat sich schon öfter irritierend verhalten.«
    »Irritierend?« Ellen raschelte mit ihrer Daunenjacke. »Warm ist das hier aber nicht. Irritierend? Kommt drauf an. Sie ist, wie sie ist. Manchmal lernt sie wie blöd, dann wieder nicht, manchmal hilft sie den jüngeren Schülerinnen total intensiv, dann sind ihr alle wieder total egal. Sie kann sehr lieb sein und dann wieder absolut gemein. Als wär sie was Besseres, als würd sie alle anderen blöd finden und irgendwie unreif. Sie kann zickig sein, schlimmer als die Fenchel, das ist unsere Französischlehrerin. Irritierend? Wenn man sich von ihr irritieren läßt, schon, ja.«
    »Haben Sie sich irritieren lassen?«
    Sie senkte den Kopf, betrachtete mit gerunzelter Stirn das Kruzifix an der Wand, legte wieder den Kopf schief. »Wieso hängt das da? Sind Sie katholisch?«
    »Ja«, sagte Fischer.
    »Ich auch. Aber wenn ich achtzehn werd, tret ich aus der Kirche aus. Ich geh auch jetzt schon nicht in Religion, sondern in Ethik. Ich glaub nicht an Gott, tut mir echt leid.«
    »Und Linda?« fragte Fischer. »Glaubt sie an Gott?«
    Ellen lachte auf und wurde sofort wieder ernst. Mit finsterer Miene blickte sie über den Tisch. »Die glaubt höchstens an sich selber. Die geht auch in Ethik. Ob die Linda an Gott glaubt? Wir machen uns lustig über den, mehr nicht. Wenn’s einen Gott gäb, säh’s anders aus in der Welt, darauf können Sie Ihre Krawatte verwetten. Gott ist eine Erfindung der Kirche, damit die Leute Angst kriegen und kuschen und alles machen, was man ihnen anschafft. Die ziehen sogar in den Krieg wegen ihrem Gott und bringen Kinder um und zerstören alles. Wenn ich den Papst treffen würd, würd ich ihm sagen, er ist der größte Verbrecher aller Zeiten, weil er den Leuten verbietet, Kondome zu benutzen, und deswegen müssen sie Aids kriegen und verrecken, oder sie kriegen Kinder, die sie nicht ernähren können und die dann in ihren Armen verhungern. Und der Papst schaut zu und sagt: Brav, daß ihr euch fortgepflanzt habt, brave Frauen seid ihr. Wenn ich mal sterb, bin ich tot, mehr ist nicht. Und deswegen muß ich dafür sorgen, daß ich vorher richtig leb, sonst hat das alles überhaupt keinen Sinn. Dann könnten wir uns ja gleich umbringen. Das sagt die Linda auch immer: Entweder du traust dich, richtig zu leben, oder du bringst dich um, alles andere ist Zeitverschwendung. Kann ich jetzt gehen?«
    »Vermissen Sie Ihre Freundin?« sagte Fischer.
    »Klar vermiß ich die, die nervige Kuh. Scheiße, ich vermiß die total. Wo ist die denn? Wann findet ihr die endlich mit eurer Supersonderkommission? Oder ist die tot? Was ist mit der? Wo ist die?«
    »Wir werden sie finden.«
    »Ehrlich?«
    »Im Protokoll steht«, sagte Fischer, »heute vor einer Woche, am Dienstag, dem ersten Schultag, hat niemand in eurer Klasse irgend etwas an Linda bemerkt, sie war wie immer, in keiner Weise irritierend oder seltsam gestimmt. Und dann habt ihr euch verabschiedet, und sie ist allein nach Hause gegangen. Ist Ihnen dazu noch etwas eingefallen? Erinnern Sie sich an etwas, das Linda gesagt oder nicht gesagt hat, was Sie vielleicht erwartet hätten.«
    Ellen stöhnte und stützte die Hände auf die Sitzfläche des Stuhls. »Da hab ich mir schon den Kopf drüber zerbrochen. Wir haben gesagt: Bis morgen. Bis morgen. Sie ist vor zur Straße, glaub ich, ich weiß nicht mehr, Stefanie war auch dabei, wie immer, wir haben noch eine geraucht und sind dann zur U-Bahn.

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