Hinter blinden Fenstern
Gesicht, und dann nie wieder. Dagegen blieb ein festgenommener Täter tage-, wochen-, monatelang anwesend, Fischer mußte ihm mehr Zeit schenken als irgendjemandem sonst.
Manchmal verneigte er sich vor einem Toten und blieb so lange stumm, bis seine Kollegen glaubten, er fange jeden Moment an zu beten. Das tat er nie. Er zollte dem Toten Respekt, er würde sich ihm niemals aufdrängen, auch wenn seine Kollegen ihm aufgrund seiner Vergangenheit das Ausüben religiöser Rituale im Polizeialltag durchaus gestatteten.
Micha Schell deutete auf einen ausgefransten, verwitterten Militärrucksack und eine Ansammlung von Kleidungsstücken, die die Kommissare vom Einhundertzwölfer – »Unbekannte Tote« – auf eine weitere Plane gelegt hatten.
»Dem Mantel und den anderen Sachen nach zu urteilen, war der Mann ein Stadtstreicher. Im Rucksack sind Konserven, das Verfallsdatum ist vor einem Jahr abgelaufen. Wenn Liz und Esther hier im Viertel nichts rausfinden, müssen wir die Brücken abklappern.«
»Und die Notunterkünfte und Sozialdienste«, sagte Fischer.
»Viele Obdachlose holen ihr Essen bei der Münchner Tafel, vielleicht kennen die Mitarbeiter den Mann.«
»Glaubst du, er hat sich zufällig in dieser Gegend rumgetrieben?« fragte Schell.
»Nein.«
»Nein. Der Tag- und Nachtwächter von drüben kennt ihn jedenfalls nicht.«
Fischer lächelte. »Eigenartig«, sagte er.
Schell schlug den Kragen seiner Steppjacke hoch, warf einen letzten Blick auf den Toten und ging zur Tür. »Was ist eigenartig?«
Im Hof gab Fischer den drei Männern und der Frau in den weißen Kunststoffoveralls ein Zeichen. Sie nahmen ihre Koffer und gingen ins Müllhäuschen, um Spuren zu sichern.
So wie Polonius Fischer als einziger im Dezernat über einen eigenen Vernehmungsraum verfügte, durfte er mit ausdrücklicher Erlaubnis des Polizeipräsidenten allein – oder mit nur einem Kollegen – und vor dem Eintreffen der Spurensucher einen Tatort oder Leichenfundort begutachten.
»Wir waren vor einem dreiviertel Jahr schon einmal hier« , sagte Fischer.
»Linda.«
»Der Tag- und Nachtwächter hatte uns angerufen.«
Schell fegte mit den Schuhen Laub über die Steinplatten.
»Stimmt. Der wollte diesen anderen Mieter hinhängen. Wie heißt der Verein, den er gegründet hat?«
»Der achtsame Mitmensch«, sagte Fischer. »AMM.«
Schell blickte an der Fassade hinauf. »Was ist daran achtsam, daß ein Mann zwei oder drei Tage lang im Müll liegt, und keiner merkt was? Wir laden die alle vor.« Er drehte sich im Kreis und fuchtelte mit den Händen. »Unterlassene Hilfeleistung, Verdacht auf Beihilfe. Der achtsame Mitmensch. Ist Liz schon Mitglied?«
Obwohl er als einer der geduldigsten und aufmerksamsten Ermittler galt, neigte der fünfunddreißigjährige Oberkommissar zu spontanen, oft rabiaten Ausbrüchen, in denen er seine Meinung vom Menschen herausschleuderte, getrieben vom Schrecken einer Erfahrung, die er mit seiner siebenjährigen Tochter teilte und deren Wucht er bis heute nicht bewältigt hatte.
Auf Schells Frage ging Fischer nicht ein. »Ich möchte noch einmal mit der Frau sprechen, die die Leiche gefunden hat.«
»Die Frau des achtsamen Mitmenschen«, sagte Schell.
Einer der Männer in den weißen Schutzanzügen kam aus dem Müllhäuschen und gab Fischer zwei Polaroidfotos. »Das wird diesmal schwer für uns. Die Container sind alle voll, die sollten heute geleert werden.«
»Danke für die Bilder.« Fischer wandte sich an Schell. »Du kannst Liz und Esther bei ihren Befragungen unterstützen, wenn du willst.«
»Nein, ich geh zu den anderen Nachbarn in der Anhalter Straße.« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Alles in Ordnung, ich bin fit. Jemand verarscht uns, das ist alles. Wie immer. Entschuldige wegen vorhin.«
Sie tauschten ein Lächeln.
Als Fischer das Klingelschild an der Anhalter Straße 14 drückte, wurde die Haustür geöffnet, und ein älterer Mann im braunen Anzug trat auf den Bürgersteig. Er hatte einen Lederkoffer in der Hand. Die beiden Männer begrüßten sich.
»Wie geht’s ihr, Herr Doktor?« sagte Fischer.
»Sie wirkt verschlossen«, sagte Dr. Leopold Breuer. »Sie hat sich hingelegt, sie war wohl etwas überbesorgt wegen ihres Zustands.«
»Kennt sie den Toten?«
»Das wissen Sie doch: nein. Sie sagt, sie hat ihn nie vorher gesehen.«
»Sie kennen ihn auch nicht.«
»Bitte?«
»Frau Soltersbusch ist bestimmt nicht Ihre einzige Patientin in Milbertshofen.«
»Nein.« Dr. Breuer
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