Hinter blinden Fenstern
der Alte, von dem ich ihr am Geburtstag erzählt hab, derselbe ist wie der im grauen Auto. Hat mich nicht interessiert, und Clarissa auch nicht.«
»Sie haben also nie mit dem alten Mann gesprochen?«
»No no never . « Petrov ruckte mit dem Oberkörper. »Was ist an dem eigentlich so wichtig? Wenn er verschwunden ist, ist er wahrscheinlich nicht der einzige in der Stadt. Und?«
»Wer, vermuten Sie, hat den Mann Ihrer Chefin ermordet?« fragte Fischer.
Petrov lachte. »Bestimmt nicht der alte Sack, der kann ja nicht mal gescheit Autofahren.«
»Wer, Herr Petrov?«
»Keine Ahnung.«
»Sie?«
Einen Moment lang starrte Petrov dem Kommissar ins Gesicht. Dann lachte er wieder, laut und kurz. »Ich? Ich? Sekunde.« Er drehte den Kopf zur Wand und hob die Schultern.
»Der ist am letzten Sonntag erstochen worden, der Hans, stimmt’s? Stimmt. Da hab ich ein Alibi, da war ich nämlich bei meiner Mutter in Moosach, und zwar von sechs Uhr abends bis ein Uhr früh. Wir haben gegessen und Karten gespielt. Ich hatte keinen Grund, den Hans zu erstechen. Wann ist die Beerdigung noch mal?«
23 Die Leere der Welt
P olonius Fischer lächelte Valerie in ihrem Büro zu. Sie nickte, und er schloß die Tür.
Manchmal nahm er das eintausendvierhundertfünfzig Seiten umfassende Buch mit den dünnen Seiten in seinen P-F-Raum mit und verwahrte es in der tiefen Schublade des viereckigen Tisches, bis er Zeit fand, es aufzuschlagen. Für sich allein. Wie früher, nach der Regel des Heiligen Benedikt, die für jeden Wochentag einen Psalm oder eine andere Bibelstelle vorsah. Am Samstag zum Beispiel das Lied des Moses aus dem Deuteronomium.
Doch Polonius Fischer wählte einen Absatz aus dem neunzehnten Kapitel, mehr aus Zufall, weil er beim Blättern darauf gestoßen war.
Er stellte sich unter das Fenster und las mit halblauter Stimme.
»Wenn jemand vor Gericht geht und als Zeuge einen anderen zu Unrecht der Anstiftung zum Aufruhr bezichtigt, wenn die beiden Parteien mit ihrem Rechtsstreit vor den Herrn hintreten, vor die Priester und Richter, die dann amtieren, wenn die Richter eine genaue Ermittlung anstellen und sich zeigt: Der Mann ist ein falscher Zeuge, er hat seinen Bruder fälschlich bezichtigt, dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er mit seinem Bruder verfahren wollte. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Die übrigen sollen davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal ein solches Verbrechen in deiner Mitte begehen. Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen …«
Er schlug das Buch zu, verharrte in der Stille und blickte zum Kruzifix über der Tür. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen, dachte er und sagte: »Ja. Aber dann würden wir uns selbst wegschaffen. Und das schaffen wir nicht.«
Jemand klopfte zweimal an die Tür. Fischer nahm seinen Block und den blauen Stabilostift und legte beides auf das rote Buch.
Im Flur wartete Micha Schell auf ihn.
»Wir haben ihn.«
»Gregorian?«
»Allerdings nicht leibhaftig«, sagte Schell. »Aber immerhin lebendig.«
Auf dem Computerbildschirm in Weningstedts Büro wuselten tausende Menschen, Farben schwammen ineinander. Wenn man länger als eine Minute hinsah, bekam man Sehnsucht nach einer weißen Wand.
Dann wurde das Bild grieseliger, unschärfer.
»Die Kollegen in der Ettstraße, die die Aufnahmen vom Oktoberfest sammeln, haben Standbilder herauskopiert« , sagte Schell. Er saß auf dem Stuhl seines Vorgesetzten, während dieser hinter ihm stand und im Kreis von Fischer, Liz Sinkel, Esther Barbarov, Walter Gabler und Georg Ohnmus unscharfe Vergrößerungen betrachtete. »Hier ist er von hinten, hier von der Seite und hier von vorn, wenn auch nur kurz. Als hätte der Typ sich absichtlich weggedreht. Das ist der Toilettenwagen, die Leute stehen Schlange. Und da kommt unser Mann wieder ins Bild.«
»Ich sehe nichts«, sagte Weningstedt.
Schell klopfte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm und betätigte mit der anderen Hand die Maus. »Jetzt siehst du ihn größer. Da. Und wieder weg. Hier ist eine bessere Auflösung. Eindeutig. Bertold Gregorian.«
»Schon schon«, sagte Liz. »Aber haben wir eine Aufnahme von der Begegnung zwischen ihm und Hans Fehring?«
»Nein«, sagte Schell.
»Nein«, wiederholte Liz.
»Nein.«
Fischer legte die Hand auf Schells Schulter. »Habe ich das gerade richtig erkannt bei der Zeitanzeige? Die Frontalaufnahme von Gregorian entstand nach der Tat, auf seinem Weg vom Oktoberfest
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