Hinter blinden Fenstern
…« Er warf Gabler einen Blick zu und sprach leiser. »… Es ginge nicht nur um zwei oder drei Morde, sondern auch um Entführung. Stell dir mal vor, der Fall Linda Gabriel würde auch in dieses Gehege mit all den Lügentieren führen, was sind wir dann? Dann sind wir Armleuchter. Dann können wir uns von den Angehörigen nach Hause leuchten lassen. Dann können wir uns so tief in Grund und Boden schämen, bis wir auf der anderen Seite der Erde wieder rauskommen. Stell dir das nur mal vor, P-F.«
»Wieso sollte das Verschwinden der Schülerin, das ein Dreivierteljahr her ist, etwas mit den beiden Morden aus Milbertshofen zu tun haben? Du hast dich in einem Konstrukt verfangen, Micha, du bist wütend, weil wir mit der Soko seit acht Monaten im Kreis ermitteln und bisher keine Spur entdeckt haben. Hör auf, dich mit Spekulationen lahmzulegen.«
»Der Luitpoldpark, wo das Mädchen verschwunden ist …«
»Sie ist nicht im Park verschwunden«, sagte Fischer, »sondern in der Nähe, in der Hiltensperger oder einer anderen der Straßen dort. Die Zeugenaussagen sind widersprüchlich, du weißt das.«
Schell klopfte mit den Knöcheln seiner rechten Faust an die Wand. »Der Luitpoldpark, die ganze Gegend, die Schule, das liegt alles nicht weit entfernt von Milbertshofen, das ist alles im Umkreis. Ich weiß selber, daß das Spekulationen sind …«
Er hämmerte gegen die Wand.
Ungehalten schnippte Gabler mit den Fingern, doch Schell reagierte nicht. »Es gibt Orte, die das Verbrechen anziehen, wie Menschen, das haben wir schon erlebt. Kindesmißhandlung, fünf Fälle in einer Straße. Raubüberfälle in einem bestimmten Viertel. Täter, die im selben Block wohnen, sogar im selben Haus. Alles schon gehabt. Und wir kämmen die ganze Stadt durch. Die Fahndung nach Linda Gabriel läuft im Ausland, und in Wirklichkeit liegt ihr Leichnam vielleicht irgendwo in der Nähe, mitten in einem Viertel, das auch noch kameraüberwacht wird. Bravo.«
Entschuldigend, weil er wieder laut geworden war, hob er die Hand. »Stell dir das einfach mal vor, wir haben doch nichts zu verlieren. Wir befinden uns mit der Soko in einem Stadium brutaler Erfolglosigkeit.«
»Wir haben mit allen Bewohnern des Blocks gesprochen« , sagte Fischer. »Und auch mit vielen Anwohnern in der Umgebung. Keine Hinweise auf die entführte Schülerin. Außer du denkst, Gregorian habe sie verschleppt.«
»Warum nicht?«
Nach einem Moment sagte Fischer: »Du meinst, wir haben zwar nicht die kleinste Spur, aber wir sollten ihr trotzdem nachgehen.«
Schell breitete die Arme aus. »Das ist wie bei dir und deinem Herrgott. Er existiert nicht, aber du bist ihm trotzdem bis ins Kloster nachgerannt.«
Gabler legte den Hörer auf. »Wovon redet ihr eigentlich?«
»Erklär’s ihm«, sagte Schell und lehnte sich, wie ausgelaugt, an die Wand.
Aber Fischer wollte jetzt nichts erklären. Er schickte Schell zu Liz in den zweiten Stock, damit sie die Vernehmung von Anita und Rupert Soltersbusch vorbereiteten, und begann mit der Rekonstruktion des Tages, an dem Bertold Gregorian zum letztenmal gesehen worden war. Vorausgesetzt, es gelang Fischer, diesen Tag anhand der Kalender und Aufzeichnungen überhaupt herauszufinden.
Bis zum Mittag blieb dieser Tag ein Schatten.
Ebenso wie Bertold Gregorian selbst.
Es gab Leute, die ihn kannten, soviel stand fest. Aber sie wußten nichts über ihn, zumindest nichts, was über den Raum, in dem sie ihm gelegentlich begegneten, hinausging.
Niemand sprach schlecht von Bertold Gregorian.
Niemand sprach gut von ihm.
Niemand wunderte sich über ihn.
Niemand gab seinem Namen einen eigenen Klang.
Niemand fragte nach Gregorians Befinden.
Im Lauf der vierzehn Jahre, in denen Polonius Fischer in der Mordkommission arbeitete, hatte er es immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die in einer eigentümlichen Form von Unsichtbarkeit existierten. Oft gingen sie einem gewöhnlichen Beruf nach, trafen sich hin und wieder sogar mit Kollegen und Bekannten zum Bowlen oder Fußballspielen oder zum Essen in einem Lokal. Sie hatten eine Familie, mit der sie in Urlaub fuhren und deren Fotos sie im Portemonnaie bei sich trugen. Manche galten als ausgesprochen leutselig oder wenigstens umgänglich. Andere waren Mitglieder in Vereinen oder engagierten sich ehrenamtlich in sozialen Organisationen.
Doch stieß ihnen etwas zu, wurden sie Opfer eines Verbrechens oder waren plötzlich aus unerklärlichen Gründen verschwunden, dann waren diese Menschen
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