Hinter blinden Fenstern
sie fast jede Nacht durch die Stadt fuhr, trieb ihn – manchmal schmerzhaft stark – die Sorge um, ihr könne etwas zustoßen.
»Nein«, sagte sie. »Ich wollte nur mit dir sprechen. Zwei Stunden lang hatte ich keinen einzigen Fahrgast, nicht mal um den Bahnhof rum. Dann bin ich durchs Gärtnerplatzviertel gekurvt. Nichts, niemand. Und mit den Kollegen wollte ich nicht reden. Nur mit dir. Aber ich wollte nicht aufdringlich sein.«
»Du kannst gar nicht aufdringlich sein«, sagte Fischer.
»Wo bist du gerade?«
»Auf dem Heimweg von der Zentrale.«
»Du sollst doch im Auto nicht mit dem Handy telefonieren. Wenn sie dich erwischen, kriegst du Punkte. Die jungen Kollegen sind spezialisiert aufs Lenkradtelefonieren.«
»Ist mir so was von egal«, sagte sie. »Ich hab nicht länger auf deine Stimme warten können.«
Manchmal, nachts, geißelte sie sich wegen ihrer sturen, zum berechnenden Gespräch mit Vorgesetzten gänzlich ungeeigneten Haltung, mit der sie damals ihre letzten Chancen als Journalistin verspielt hatte. Und sie dachte an ihr Alter und an die Rente, die sie freiwillig aus dem Fenster geworfen hatte.
Doch dann dachte sie wieder an ihre letzte große Reportage, die ihr Leben für alle Zeit verändert hatte, und zwar auf eine Weise, von der zu träumen ihren kieselhirnigen Chefredakteuren jede Phantasie fehlte. Und wenn sie den Monologen angetrunkener, zorniger, jämmerlicher oder von den eigenen Lebensausreden überzeugter Fahrgäste zuhörte, überkam sie ein Gefühl tiefer Versöhnung mit allem, was war, und mit allen ihren Entscheidungen.
Und eine Ahnung vom Glück hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung mit Polonius Fischer in dessen Büro gehabt, als sie ihm für ihre Reportage die erste Frage stellte: Ist es Ihnen nach neun Jahren im Kloster hier in der Mordkommission, wo ständig das Telefon klingelt und Leute rein und rauslaufen, nicht viel zu laut und wuselig? Und er hatte sich mit den Fingern durch die Haare gestrichen und seinen Blick auf ihr ruhen lassen.
Vielleicht hatte sie deshalb nie Angst, wenn sie nachts unterwegs war: weil sein erster Blick ihr bis heute wie eine Obhut erschien.
»Wir werden uns heute wieder nicht sehen können«, sagte er.
»Das macht nichts«, log sie.
»Hast du heute nacht Dienst?«
»So wie du.«
»Du kannst bei mir übernachten, wenn du möchtest.«
»Ohne dich?«
»Irgendwann am Vormittag bin ich da.«
»Verdammt, ich muß aufhören. Da vorn lauern deine jungen Kollegen.«
Abrupt brach die Verbindung ab.
Mit dem Handy am Ohr stand Polonius Fischer in seinem Büro und hörte durch das offene Fenster die Schläge einer Kirchturmuhr.
22 Tolle Frau, große Frau, starke Frau
V alerie Roland stellte eine Tasse mit schwarzem Kaffee auf den kleinen viereckigen Tisch unter dem Fenster und setzte sich an ihren Platz neben der Tür. Sie ließ ihre Finger flattern und begann, in den Laptop zu tippen. Zunächst notierte sie Datum und Uhrzeit – Sonntag, 29. September, 8 Uhr 10 –, anschließend Namen und Alter des Zeugen – Mika Petrov, einundvierzig – und den Namen des Sachbearbeiters, der die Vernehmung – das Gespräch, wie er es nannte – durchführte.
»Interessante Zelle«, sagte Petrov. Schlürfend trank er einen Schluck und sah sich um.
Unter seiner schwarzen Lederjacke trug er ein dotterfarbenes Hemd, dazu eine schwarze Hose aus Kunstleder und schwarzweißgestreifte Sportschuhe. Er hatte stoppelige Haare, schmale Augen, dünne, bleiche Lippen, ein eckiges Gesicht. Seine Hände waren kräftig, die Finger sehnig, die Fingernägel lang und teilweise abgekaut. Petrov bewegte sich langsam, auch wenn er saß, und vermittelte den Eindruck eines durchtrainierten Leibwächters, der blitzschnell reagieren und zuschlagen konnte. Seine Müdigkeit überspielte er mit ruckartigen Kopf- und Schulterbewegungen. Mehrmals rieb er sich mit der flachen Hand übers Gesicht.
»Möchten Sie noch mehr Kaffee?« fragte Polonius Fischer.
Petrov hatte die Tasse in drei Schlucken ausgetrunken. »Ich bin fit. Sie wollen wissen, ob die Chefin mit dem alten Mann befreundet ist, den Sie mir auf dem Foto gezeigt haben? Was soll ich dazu sagen? Ich kümmere mich nicht um ihre Freunde, ich bin ihr Angestellter, ich mach meine Arbeit.«
»Als was sind Sie angestellt?«
»Türsteher, rechte Hand, Organisator, Chauffeur. Alles.«
»Der Mann heißt Bertold Gregorian und war zu der Zeit, als Dinah Lustiger starb, einer der engsten Vertrauten Ihrer Chefin. Sie haben doch
Weitere Kostenlose Bücher