Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Schläfe. Mein Magen zieht sich auf die Größe einer Nuss zusammen. Laut der Untersuchung des Leichenbluts war mein Vater zum Zeitpunkt seines Todes leicht betrunken. Vielleicht hatte er einen Kater. Oder er musste sich Mut antrinken.
Wie würde ich mich umbringen? Die Frage haben sich bestimmt viele schon einmal gestellt, als sie auf der Autobahn fuhren, auf einer Brücke oder einem hohen Balkon standen – rein theoretisch versteht sich. Die Pulsadern aufschneiden oder Tabletten schlucken? Mich erschießen, von einer Brücke springen, erhängen, Autoabgase, verbrennen, vergiften? So wie Thorsten von einem Hochhaus springen würde ich nie, ich habe nämlich Höhenangst. Magnus hat gesagt, dass Thorsten während des Falls bewusstlos geworden ist und den Aufprall wahrscheinlich gar nicht gespürt hat.
Ich sehe mein Spiegelbild mit den schwarzen Strichen auf meinem Körper an und empfinde keinen Hass mehr, sondern Mitgefühl. Mein armer Vater.
Plötzlich klopft es an der Tür. Schnell, wo ist mein T-Shirt?
»Schätzchen, kann ich für Hajo einen Pullover aus dem Schrank holen?«, fragt meine Mutter durch die geschlossene Tür.
»Moment!«, schreie ich und suche nach etwas zum Überwerfen.
»Helena, was machst du denn da?« Sie nennt mich nur Helena, wenn sie mit mir schimpfen will.
»Nichts, warte bitte! Ich bin nackt!«
Ich bemerke, wie ich irgendwie Angst vor ihr bekomme, so als hätte ich was ausgefressen. Sie darf mich auf keinen Fall so sehen, sie flippt sonst aus! Meine Mutter drückt die Klinke runter, im gleichen Moment finde ich endlich mein T-Shirt und ziehe es schnell über meinen Kopf.
»Also bitte, ich bin deine Mutter. Ich weiß, wie du nackt aussiehst. Malst du dir Tattoos oder so was?«
»Nein, das sind Papis Verletzungen«, sage ich.
Wir stehen schweigend voreinander. Meine Mutter schaut auf meinen Oberkörper und die Markierungen an meinen Armen. Das T-Shirt hat kurze Ärmel.
»Du wirst mir gerade ziemlich unheimlich«, antwortet meine Mutter und sieht eher besorgt als sauer aus.
»Du konntest ihn gar nicht retten«, sage ich.
Meine Mutter stützt sich auf der Stuhllehne von meinem alten Schreibtischstuhl ab.
»Nein, keine Chance«, sagt sie.
Ich schaue aus dem Fenster, die Wolken formen sich zu Gesichtern.
Nach dieser Todesorgie muss ich mir etwas Gutes tun, das heißt: Ich brauche eine heiße Dusche, Vitamine und Sonne. Caro ist im Wald joggen, wie so oft. Sie läuft und läuft und läuft. Dazu bin ich zu faul, ich könnte höchstens versuchen, mit dem Rad hinter ihr herzufahren. Lieber lasse ich eine halbe Stunde lang warmes Wasser über meine Schultern laufen. Die Linien auf meiner weißen Haut bluten aus und laufen in schwarzen Rinnsalen meine Schenkel runter. Nach der Dusche frottiere ich meine Haare und creme meinen Körper vom Hals bis zu den Zehenspitzen mit Bodylotion ein. Unten in der Küche mache ich mir eine Kanne Grünen Tee und einen Obstsalat aus Äpfeln, Bananen, Kiwi und Maracuja. Dann gehe ich raus in den Garten, hole einen Stuhl aus der Garage und stelle ihn unter die alte Trauerweide, deren lange, dünne Äste bis zum Boden reichen. Ich mache nichts weiter, als hier zu sitzen und ein- und auszuatmen. Mit dem Wind bewegen sich die Äste hin und her, die Blätter rauschen und zwischen dem Grün kommt immer wieder die Sonne zum Vorschein und strahlt warm auf mein Gesicht.
Was macht das Leben lebenswert? Für mich ist es dieser Moment, die Sonne und der schöne Baum. Aber kann man so argumentieren, wenn jemand Depressionen hat und nicht mehr leben will? Wenn einen Vater selbst seine Kinder nicht am Leben halten können, dann ahnt man, dass eine Depression ein Monster ist. Die manische Depression ist ein Monster mit zwei Köpfen. Interessant finde ich, dass viele Künstler angeblich manisch-depressiv waren. Vincent van Gogh oder Ernest Hemingway, zwei Beispiele. Man sagt, dass gerade die bipolare Störung mit ihren manischen Zuständen eine große Schaffenswut und Kreativität provoziert. Danach fallen die Betroffenen in ein Loch. Mein Vater hat keine Sonnenblumen gemalt und keinen Roman über einen alten Fischer geschrieben, dafür aber einen Umzug geplant und zwei Arztpraxen eingerichtet, das könnte man auch als kreativ bezeichnen. Aus seinem Loch ist er nicht wieder rausgekommen.
Aber auf das große »Warum?« gibt es keine Antwort, die mich ganz und gar versöhnen würde. Es ist genauso müßig zu fragen, warum jemand an Krebs gestorben ist. Warum ist
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