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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa von Heyden
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mein Vater, warum ist Thorsten gestorben? Weil sie krank waren und nicht rechtzeitig die richtige Hilfe bekommen haben. Und ich als Kind eines Selbstmörders habe auch keine Hilfe bekommen, sodass ich heute, zwanzig Jahre später, immer noch wütend bin und mich schuldig fühle. Wenn man nichts Ähnliches erlebt hat, kann man sich nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Tabu aufzuwachsen. Die Worte »Mein Vater hat sich umgebracht« bringt man nie über die Lippen, ohne sich selbst zu gruseln, zumindest empfinde ich es so. Es gibt Wörter wie »Apfelkuchen«, »Kinderlachen« oder »Sommerwind«, die auf der Zunge zergehen und bei denen man ein wohliges Gefühl hat. Aber »Selbstmord« kratzt wie ein Stück hartes Brot im Hals und hat einen bitteren Nachgeschmack. Der Frage »Und was machen deine Eltern?« versuche ich deshalb aus dem Weg zu gehen. Meistens muss ich sie irgendwann doch beantworten, so wie zuletzt bei Magnus’ und meinem Kennenlernen. Also sage ich meinen Standardsatz: »Meine Mutter ist Ärztin. Mein Vater ist tot.« Ich schiebe meistens noch so etwas wie »schon lange« ein, damit keiner Angst haben muss, dass ich gleich in Tränen ausbreche. Wenn dann jemand fragt »Woran ist er gestorben?«, passiert es oft, dass ich lüge.
    Ich habe im Laufe der Jahre eine zugegebenermaßen zweifelhafte Fähigkeit entwickelt. Ich kann super lügen. Anstatt zu sagen »Mein Vater war manisch-depressiv und hat sich das Leben genommen«, dachte ich mir die wildesten Geschichten aus. Einmal wurde mein Vater von der Mafia erschossen, das andere Mal ist er beim Höhlentauchen ertrunken oder bei einem Flugzeugabsturz im Regenwald gestorben. So war ich nicht mehr die Tochter eines Irren, sondern die eines Abenteurers. Manchmal habe ich meine Geschichten so gut erzählt und so bunt ausgeschmückt, dass ich anfing, sie selbst zu glauben. Meine Schulfreunde wussten von der Wahrheit und sagten nichts, wenn ich mich in meiner Fantasie verlor.
    Bis heute kann ich nicht aufhören, Märchen zu erzählen. Meistens geht es darum, mich besser darzustellen, als ich es bin. Ich gebe mit dem an, was ich angeblich alles erlebt und gemacht habe, wen ich kenne und so weiter und so weiter. Ich bin darauf trainiert, die Unwahrheit zu sagen, die ganz weit von mir wegführt. Von kleinen Notlügen im Alltag bis hin zu abendfüllenden Geschichten, mit denen ich ganze Tische unterhalte – gäbe es eine Goldmedaille fürs Lügen, ich hätte einen Schrank voll davon. Manchmal stehe ich neben mir, belausche mich selbst dabei, wie ich lüge, übertreibe und was zusammendichte. Ich denke, Sunny, hör auf damit, aber es ist wie eine Sucht. Ich lüge, dass sich die Balken biegen und fürchte den Tag, an dem ich jemandem gegenübersitze, der cleverer als ich ist, mich entlarvt und sagt: »Alles, was du sagst, stimmt nicht.« Aber kann man das nicht nachvollziehen? Als kleines Mädchen will man eine Prinzessin oder eine Fee sein, aber nicht die Tochter eines Irren, der sich wie in einem Horrorfilm im Keller umgebracht hat. Wäre ich ein Psychologe, würde ich jetzt behaupten, dass meine Lügen meine Selbstverteidigung sind.
    Wie ich da unter dem Baum in der Sonne sitze, beschließe ich, mich ab heute nicht mehr für den Tod meines Vaters zu schämen und nicht mehr zu lügen. Das muss aufhören. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer hole ich mir noch eine Tasse von Hajos Haselnusskaffee.
    »Habe ich frisch für dich gebrüht. Deine Mutter hat mir erzählt, was du gerade da oben bei dir im Zimmer machst beziehungsweise durcharbeitest«, sagt er zu mir in der Küche. »Ich finde es sehr mutig von dir. Wirklich, ganz toll. Ich mache euch jetzt noch etwas Schönes zu essen und dann zische ich ab, versprochen.«
    »Danke, Hajo«, sage ich versöhnlich. Irgendwie kann er ja doch manchmal ganz süß sein. Ich bin auch stolz auf mich.
    »Mami, ich lese jetzt deine Tagebücher«, sage ich zu meiner Mutter.
    Hajo guckt mich mit großen Augen an.
    »Vielleicht ist ein Schnaps dann besser als Kaffee?«, fragt er meine Mutter.
    »Bitte fang nicht wieder an zu weinen«, sagt sie.
    »Ach, Mama. Ich hätte das alles viel früher lesen und viel mehr weinen müssen«, sage ich.
    Fünf Tage danach
    In Liebe für Hans, der nicht mehr bei uns ist. In Liebe, die über den Tod hinaus andauert. In Liebe, die immer voller Fragen war; die Fragen hinterlässt, die niemand mehr beantworten kann. In Liebe, die mehr gegeben und mehr genommen hat, als ein einziger Mensch glaubt, tragen

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