Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
konnte. Natürlich wusste ich, dass da etwas in großen roten Buchstaben stand, aber ich wusste nicht, was es genau bedeutete: »Khao-I-Dang Refugee Camp«. Meine Mutter zwang mich, das T-Shirt sofort auszuziehen, sodass ich in meinem BH im Flur stand. Sie meinte, ich sei wohl nicht mehr ganz bei Trost, es gebe Grenzen des guten Geschmacks und dieses T-Shirt sei ab sofort für mich Tabu.
Die Diashow geht weiter mit Aufnahmen von den Abenden im Refugee Camp. Es erinnert mich an eine Gartenparty mit Stromausfall. Alle rauchen Zigaretten, glänzen stark im Gesicht und tragen die Haare lang, auch die Männer. Die Augen der Frauen sind blau geschminkt. Auf den Tischen brennen Kerzen, die in alten Flaschen stecken. Auf den Tellern liegen Reste von Reis, Gemüse und …Würsten?
»Ja, da gibt es wohl auch Würstchen! Papi fand das Essen damals total lecker – dass es jetzt in Deutschland überall thailändische Restaurants gibt, hätte ihm bestimmt gefallen. Er war wohl auch von der Freundlichkeit der Menschen so begeistert. Das ›Sourire Khmer‹ – das Lächeln der Khmer – ist weltberühmt. Das hat ihn irgendwie verzaubert«, erzählt Caro. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus.
Auf dem nächsten Bild sieht man einen Soldaten mit Maschinengewehr in der Hand, auf einem anderen spielen Kinder mit einem Ball aus zusammengeknoteten Lumpen. Keines von ihnen trägt Schuhe.
»Wie süß die Kinder sind – guck mal, das Lachen ist echt schön«, sage ich.
Mit dem Diaprojektor reisen wir weiter durch die Vergangenheit unseres Vaters. Plötzlich werden wir stutzig. Auf den Fotos taucht immer wieder dieselbe Frau auf. Anscheinend ist sie eine Einheimische, die auch in dem Flüchtlingslager gearbeitet hat. Mal winkt sie aus der Ferne, so als würde sie sich verabschieden, dann sieht man ein Porträt, das ganz aus der Nähe aufgenommen wurde. Die Bilder wirken vertraut, beinahe intim.
Caro zieht die Augenbrauen zusammen.
»Wer ist denn das?«, frage ich sie wieder.
»Ich hab keine Ahnung«, antwortet sie und zuckt mit den Schultern. Auf dem nächsten Bild steht die Frau auf der Straße, ihr gelbes Kleid flattert im Wind. Sie sieht nett aus. So posiert eine Frau im Urlaub für ihren Mann vor den Sehenswürdigkeiten. Gleich auf dem nächsten Bild sieht man zwei nackte Füße, deren Fesseln mit je einem silbernen Kettchen geschmückt sind. Früher sind wir mit meinem Vater im Sommer nach Holland ans Meer gefahren. Dort hat er am Strand ähnliche Fotos von unseren Füßen gemacht. Wir mussten uns alle im Kreis aufstellen und jeweils einen Fuß in die Mitte schieben. Das war immer lustig, weil man genau sehen konnte, wer von wem den großen Zeh geerbt hat. Auf diesem Bild aber sind die Füße von meinem Vater mit einer anderen Frau zu sehen. Caro und ich sind ratlos. Wer ist das?
Plötzlich steht meine Mutter hinter uns im Zimmer, mit zwei Tellern Gulasch und einem Stück Papier in der Hand.
»Ah, die kleine Krankenschwester!«, sagt sie und reicht jedem von uns einen Teller. »Hier, wenn ihr euch schon die Thailand-Fotos anschaut, dann interessiert euch dieser Artikel hier bestimmt auch. Guten Hunger!«, fügt sie hinzu und verschwindet mit den Worten »Das Essen brennt an!« wieder nach unten.
Caro und ich schauen ihr mit offenen Mündern nach und staunen über ihren Kommentar bezüglich der Krankenschwester.
»Was meint sie denn damit?«, frage ich meine Schwester.
»Woher soll ich das wissen?«
Ich falte das Stück Papier auseinander, es ist ein alter Artikel, der im Sommer 1980 in einer Lokalzeitung erschienen ist. Auf dem schwarz-weißen Aufmacherfoto erkenne ich meinen Vater mit seinem Karate-Kid-Stirnband. Ich schiebe mir eine Gabel Nudeln in den Mund und lese kauend den Text vor:
Operationen bei Treibhaustemperaturen von 50 Grad – zehn Stunden täglich. Auf dem Operationstisch wimmelte es von Ameisen und Fliegen.
Bonner Arzt heilte im Lager von Khao-I-Dang die Wunden von Kambodscha-Flüchtlingen
62 Briefe hat Dr. Hans Schulz aus dem vier Quadratkilometer großen Lager Khao-I-Dang in Thailand mitgebracht, Briefe von Kambodscha-Flüchtlingen. In jedem Umschlag die Hoffnung, über Verwandte ersten Grades, also über Familienzusammenführung, herauszukommen. Denn eine andere Chance gibt es für sie nicht. Über die inzwischen offene Grenze gehen die wenigsten zurück. »Die Lage für jeden Einzelnen ist augenblicklich hoffnungslos. Und trotzdem strahlen diese Menschen Kraft und Zuversicht aus. Sie sind
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