Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
immer wieder bereit für einen neuen Anfang.« Schulz hat sie vor allem auf dem notdürftigen Operationstisch vor sich gehabt und in langen Nächten, wenn er Dienst hatte und Zeit war für Gespräche mit den Khmer. »Man ist erschüttert über die Einzelschicksale«, sagt er. »Ganze Familien wurden brutal ausgerottet. Von sieben Millionen leben nur noch drei Millionen.«
Verarbeitet hat der Chirurg seine Eindrücke aus den rund zwei Monaten von Ende April bis Juni im Operationszentrum des Malteser Hilfsdienstes unter den Kambodscha-Flüchtlingen noch nicht. Er weiß nur eines: Er will ihnen helfen. Im Bonner Malteser Krankenhaus zumindest sollen Besucher, Ärzte, Krankenschwestern – kurz: alle – an dem großen Foto des Flüchtlingskindes nicht vorbeikönnen, ohne ihre Spende in den Topf zu werfen. Denn diese Flüchtlinge haben nichts. Und wenn sie herauskommen sollten aus dem Lager mit 110.000 bis 140.000 Menschen, der größte Teil Khmer, isoliert von ihnen 1.300 Vietnamesen, dann stehen sie da mit einer Plastiktüte, einem Kochtopf und einer Strohmatte, wie die Frau mit ihrem Baby, der eine Mine das Gesicht weggerissen hat. Sie wurde in ein Hamburger Krankenhaus ausgeflogen.
Noch heute schüttelt der Chirurg über die »unglaubliche« Widerstandsfähigkeit seiner Patienten verwundert den Kopf. Trotz der notdürftigen Bedingungen verzeichnete das kleine Operationsteam überraschende Heilerfolge. So war der Operationstisch anfänglich nur ein durchgelegenes Bett auf Bambusstützen. Ameisen und Fliegen waren aus der sterilisierten Zone kaum herauszuhalten. Der Wind wirbelte den Sand dazwischen. In der mit Plastikfolie abgedichteten Bambushütte stiegen die Treibhaustemperaturen auf 50 Grad und bei Regen tropfte auch noch Wasser auf den OP-Tisch. »Man muss viel Geduld und Toleranz mitbringen«, so Schulz. Trotzdem heilten zum Beispiel Verbrennungen dritten Grades »so fantastisch schön«, dass er sich fragt, warum solche schweren Verletzungen bei uns in Deutschland so problematisch sind.
»Zwei Monate dort zu arbeiten, ist viel zu kurz«, meint Schulz. »Man ist gerade eingearbeitet und hat Kontakt zu allen.« Wenn nicht seine Familie auf ihn gewartet hätte, wäre er für lange Zeit dort geblieben. »Es ist so befriedigend, an der Basis zu arbeiten. Der Klinikbetrieb in Deutschland frustriert im Vergleich.«
Sieben Tage in der Woche täglich zehn Stunden lang stand Schulz vorwiegend am Operationstisch. Und nur wenn es eine Verschnaufpause gab, merkte das Team, wie groß die eigene psychische und physische Belastung war. »Dann spürt man die Hitze, die Feuchtigkeit, die besonders am Anfang dick geschwollenen Beine und die Infektionen an den Unterarmen, die man sich durch zu kräftiges Bürsten geholt hatte und die höllisch jucken.«
Wer mit dem Ziel, sich fachlich zu profilieren, die Arbeit im Flüchtlingslager anfangen will, kommt nach Schulz’ Erfahrungen nicht weit. »Wenn man den Menschen einfach weiterhelfen will, hat man die beste Einstellung zu der Arbeit dort. Und man meistert dann alle Situationen. Es gehört sicher auch eine Portion Mut, Selbstvertrauen und Idealismus dazu.«
»Wow«, sage ich und kann den Artikel gar nicht aus der Hand legen.
»Papi war so was wie ein Held«, sagt Caro.
»Vor allem dieser Satz ist besonders heldenhaft: ›Die Lage für jeden Einzelnen ist augenblicklich hoffnungslos. Und trotzdem strahlen diese Menschen Kraft und Zu-versicht aus. Sie sind immer wieder bereit für einen neuen Anfang.‹ Von denen hätte er sich mal eine Scheibe abschneiden sollen. Und verstehe ich das richtig, dass er am liebsten dageblieben wäre?«
»Ja, aber nur, wenn er uns nicht gehabt hätte.«
»Ich will wissen, wer diese Krankenschwester war. Komm, wir essen schnell auf und gehen Mama fragen.«
»Was hast du damit gemeint?«, frage ich meine Mutter, während sie unten in der Küche unsere leeren Teller in die Spülmaschine einräumt.
»Hat’s euch geschmeckt?«
»Ja, Mama, war lecker, aber lenk nicht ab. Wer war die Frau?«
Meine Mutter seufzt und sagt: »Sie war seine Freundin.«
»Wie bitte?«, frage ich
»Seine Freundin.«
Ich stütze mich mit der Hand auf dem Spülbecken ab.
»Wie soll das denn gehen, er hatte doch dich und uns?«, fragt Caro, die jetzt auch kirre wird. Gleich holt sie ihre Laufschuhe und rennt zwei Stunden durch den Wald.
»Sie war eine Krankenschwester in dem Lager. Dein Vater hatte sich in sie verknallt.«
»Wie bitte? In einer manischen Phase,
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