Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Krankenhaus auf die Behandlung von Leprakranken, einschließlich rekonstruktiver Chirurgie.
Anbei übersenden wir Ihnen eine kurze Zusammenfassung über die Malteser Aktivitäten in Kambodscha und in den Flüchtlingslagern an der thailändisch-kambodschanischen Grenze und außerdem die Telefonnummer von einem Kollegen, Dr. Wolf Borchert aus Düsseldorf, der zusammen mit Ihrem Vater in Khao-I-Dang gearbeitet hat. Ich habe ihn im Vorfeld informiert und er ist gern bereit, Ihnen über den Aufenthalt dort zu erzählen.
Wir hoffen, Ihnen mit diesen Details ein wenig weitergeholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Renate Grimm
Wo ist mein Erdkunde-Atlas? Ich will auf der Landkarte gucken wo Aranyaprathet liegt. Damals könnte irgendetwas mit meinem Vater passiert sein. In Thailand war er voller Tatendrang, zurück in Deutschland hat er sich drei Jahre später umgebracht. Vielleicht haben ihn die Erlebnisse im Nachhinein mehr belastet, als er sich eingestehen konnte. Bestimmt hat es ihn traurig gemacht, dass er nicht allen Leuten helfen konnte, zurück nach Hause musste und die Krankenschwester nie wiedergesehen hat. Ich greife zum Telefonhörer und rufe den ehemaligen Kollegen meines Vaters an. Früher hätte ich mich so etwas bestimmt nicht getraut.
»Hallo?«, meldet sich eine Piepsstimme. Es raschelt in der Leitung.
»Guten Tag, mein Name ist Helena Schulz. Ich möchte bitte mit Dr. Borchert sprechen.«
»Ja, Moment …« Es raschelt wieder.
Im Hintergrund bellt ein Hund, die Piepsstimme versucht, gegen das Gebell anzubrüllen.
»Papa! Papa! Telefon!«
»Wer ist dran?«
»Weiß ich nicht, ein Mädchen!« Erneut ein Rascheln.
»Ja, hallo?«, meldet sich eine Männerstimme.
»Hallo, ich heiße Helena Schulz. Frau Grimm vom Malteser Hilfsdienst hat mir Ihre Nummer geschickt. Sie hat gesagt, dass ich Sie anrufen dürfe …«, stottere ich.
»Sicher, hallo Frau Schulz. Frau Grimm erzählte mir, dass sie Fragen zu Khao-I-Dang haben.«
»Genau. Wie Sie ja vielleicht wissen, lebt mein Vater nicht mehr und meine Schwester und ich haben uns die Fotos angeschaut, die mein Vater in dem Lager gemacht hat, und ein paar Dinge können wir uns nicht zusammenreimen.«
»Ja, ich erinnere mich gut. Ihr Vater ist dauernd mit seiner Kamera herumgelaufen. Er wollte alles dokumentieren: die Fortschritte der Patienten, die einfachen Mittel, mit denen dort so viel möglich gemacht wurde, und den enormen Gegensatz zwischen so viel Leid auf der einen und der Schönheit des Landes auf der anderen Seite. Das war für uns alle ein großes Abenteuer.«
»Ich weiß nicht, ob man auch Sie auf den Fotos sieht, aber da ist auf jeden Fall immer wieder eine Frau zu sehen. Eine Asiatin mit Mittelscheitel und langen Haaren, das Gesicht ist ein bisschen rundlich …«
»Das ist Lamai. Sie war eine Krankenschwester aus Aranyaprathet.«
»Das ist jetzt ein bisschen peinlich, aber meine Mutter hat so eine Andeutung gemacht, dass mein Vater mit dieser Frau … befreundet war.« Das Wort »befreundet« ziehe ich gekünstelt in die Länge.
»Oje. Was soll ich sagen? Sie sollten diese Geschichte nicht überbewerten. Ihr Vater war ein hervorragender Chirurg und er hat oft von seiner Familie gesprochen. Sie müssen verstehen, unter welchen extremen Bedingungen wir dort gearbeitet haben. Uns ist unsägliches Leid begegnet. Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, vor allem ihr Vater hat bis zur Erschöpfung operiert, weil er so vielen Menschen wie möglich helfen wollte. Abends haben wir in Gesprächen versucht, die Eindrücke zu verarbeiten. Aber auch wenn wir alle Profis waren – es ging uns tierisch an die Nieren. Und na ja, wie soll ich sagen: Jeder hat auf seine Art versucht, auf andere Gedanken zu kommen.«
»Verstehe. Wissen Sie denn, ob diese Frau und mein Vater nach seiner Abreise noch in Kontakt standen?«
»Ich glaube kaum, in Khao-I-Dang gab es genau einen Telefonapparat. Ihr Vater hat viel von seiner Familie gesprochen und dass er Sie alle sehr vermisst. Ich würde sagen, er und Lamai hatten eine Affäre und als wir abreisten, war es vorbei. Ich weiß von einem anderen Kollegen, der nach uns in Khao-I-Dang war, dass Lamai später einen Job im Krankenhaus in Aranyaprathet aufgenommen hat. Das Lager wurde dann Anfang der Neunzigerjahre geschlossen.«
»Glauben Sie, Lamai lebt noch?«
»Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie im Krankenhaus arbeitet. Und ich meine, dass sie
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