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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa von Heyden
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Drache gemacht hat. Ich merke, wie Frau Wehmeier die Stirn runzelt, lasse mich aber nicht davon abbringen, mir vorzustellen, wie mein Vater hier gestorben ist. Ich kann gar nichts dagegen machen. Ich sehe, wie er sich das Messer in die Brust rammt, wie das Blut die Arme und Beine hinunterläuft, wie er umfällt, dabei die Steckdose abreißt und dann auf dem Boden darauf wartet, dass sein Leben aus ihm entweicht. Ich stelle mir vor, wie er begreift, dass sein Selbstmordversuch erfolgreich war und er nicht mehr zu retten ist. Ob er in diesem Moment glücklich war? Ich hoffe es.
    In meiner Tasche piept mein Handy. Mist, ich sollte mich bei Magnus melden, wenn ich in Lingen am Bahnhof angekommen bin. Jetzt ist er bestimmt sauer. Ich stehe auf und nicke Frau Wehmeier zu, die nach den richtigen Worten zum Abschied sucht, während sie mich nach oben begleitet.
    »Danke Ihnen, dass Sie mich in Ihr Haus gelassen haben. Ich hätte aber auch verstanden, wenn Sie mir die Tür vor der Nase zugeknallt hätten«, sage ich im Voraus.
    »Das war doch selbstverständlich, Frau Schulz.«
    »Finden Sie?«
    Zusammen stiefeln wir die Treppe hoch, dabei wandert mein Blick die Wand entlang. Normalerweise gucke ich beim Laufen immer auf meine Füße. Ich frage mich, ob man unter der weißen Tünche an der Wand noch die Blutspuren meines Vaters finden kann, die laut meiner Mutter entstanden sind, als er mit den Füßen zuerst die Treppe hochgetragen wurde.
    Frau Wehmeier ruft per Telefon ein Taxi für mich, ich stehe im Flur und bewundere den Marmorboden, der wie eine Eisfläche glänzt. Wenn sie wüsste, dass ich schon mal in den Flur gepinkelt habe, denke ich. Zum Abschied reiche ich ihr die Hand, sie greift zu und legt ihre linke Hand obendrauf.
    »Das war sehr schön, dass Sie da waren …«, lobt sie mich. »Grüßen Sie Ihre ganze Familie herzlich von mir.«
    »Danke, das mach ich«, antworte ich. Dabei weiß ich noch gar nicht, ob ich meiner Mutter von dem Trip nach Lingen erzählen werde. Was ich ganz sicher weiß: Hier will ich nie wieder hin.
    Ein paar Minuten muss ich noch auf der Straße aushalten, bis endlich ganz am Ende der langen Hauptstraße ein Taxi auftaucht. Ich bekomme keine Luft, aber es wird sofort besser, als ich den jungen Fahrer von vorhin am Steuer erkenne. Er hupt, ich springe auf die Rückbank und sage: »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen!« Der Typ guckt mich an und schnalzt mit der Zunge. Dann gibt er Gas und brettert mit mir zurück in Richtung Bahnhof.



 
    Als ich wieder am Bahnhof stehe und auf den Zug in Richtung Berlin warte, merke ich, dass meine Fingernägel blau sind und meine Hände zittern. Ich krame das Handy aus meiner Tasche und rufe Magnus an. Während ich im Taxi saß, hat er dreimal angerufen und eine motzige SMS geschrieben. Ich konnte nicht rangehen, ich brauchte den Moment für mich.
    »Entschuldige, dass ich mich jetzt erst melde«, sage ich mit leiser Stimme. Ich habe ein schlechtes Gewissen.
    »Geht’s noch? Ich mache mir Sorgen! Wo bist du jetzt?«
    »Auf dem Rückweg.«
    »Warst du überhaupt bei eurem Haus?«
    »Ich war sogar drin!«
    »Bist du etwa eingebrochen?«
    »Nein, die Frau, die da jetzt wohnt, hat mir freiwillig die Tür aufgemacht. Vielmehr hat sie mich reingezerrt. Die hat damit gerechnet, dass eines Tages einer von uns zurückkommt. Ich war überall. Im Garten, in der Küche, oben im Kinderzimmer und im Keller.«
    Magnus schnauft in den Hörer.
    »Sunny, bitte komm nach Hause. Ich verspreche dir, wenn du deine Arbeit geschafft hast, fahren wir in den Urlaub und erholen uns.«
    »Am liebsten würde ich sofort fahren.«
    »Erst die Prüfung.«
    Magnus versteht mich nicht.
    »Ich meine das ernst – am liebsten würde ich sofort fahren.«
    »Sunny, mach keinen Scheiß.«
    »Der Zug kommt, ich melde mich wieder!«
    Ich lege auf. Magnus ist immer so vernünftig.
    Kaum habe ich ein leeres Abteil gefunden, schießen mir Tränen aus den Augen und ich weine so heftig, dass mir wie einem kleinen Kind der Rotz aus der Nase läuft. Mein Gesicht spiegelt sich in der Fensterscheibe – Sunny Schulz sieht aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Ich habe unterschätzt, wie anstrengend der Besuch bei meiner Mutter, das Lesen der Unterlagen und – als vorerst krönender Abschluss – der Zwischenstopp in Lingen sein würden. Was habe ich erwartet? Dass ich mal eben durch die Vergangenheit fege, ohne dass es mir was ausmacht? Ja, irgendwie schon.

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