Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
geheiratet«, antworte ich ihr abwesend.
»Die Leute sagten, Ihr Vater sei ein unheimlich sympathischer Mann gewesen und Sie wären gerade erst hierhin gezogen, als er starb. Die Nachbarin von gegenüber erzählte, dass seine Praxis erst eine Woche aufhatte und er dann …«, berichtet sie mir.
»Sie können ruhig sagen, dass er sich umgebracht hat«, sage ich. Wir trinken schweigend den Tee aus. Gott, ist mir die ganze Situation unangenehm. Andererseits finde ich interessant, was Frau Wehmeier zu berichten weiß.
Mit ihrem nächsten Atemzug steht sie auf, zupft ihr Twinset zurecht und fragt: »Wollen wir uns gemeinsam umschauen? Ich habe nachher noch einen Friseurtermin.«
»Ja, darf ich als Erstes bitte unsere alten Kinderzimmer sehen? Die waren im ersten Stock, die Treppe hoch und dann rechts«, antworte ich und kippe meinen letzten Schluck Tee runter.
Frau Wehmeier räumt die Tassen in die Spülmaschine, es riecht plötzlich überall nach Zitrone. Sie führt mich aus der Küche zur Treppe nach oben. Der Teppich auf dem Flur in der ersten Etage ist neu. Damals war er beige, heute ist er hellblau und picobello sauber. Ich schaue sicherheitshalber unter meine Schuhsohlen, nicht dass ich hier Dreck hinterlasse.
Caros und mein altes Kinderzimmer ist das Arbeitszimmer von Frau Wehmeiers Mann, der wohl gerade auf Geschäfts- reise ist. Gott sei Dank, der hätte mich auf jeden Fall nicht reingelassen, denke ich. Der Raum ist winzig. Nichts kommt mir hier vertraut vor.
Die Zimmer meiner Brüder sind Wäsche- und Gästezimmer. Die Betten sind bezogen, auf der Fensterbank steht eine Vase mit rosafarbenen Seidenblumen. Das ehemalige Schlafzimmer meiner Eltern ist auch ihr Schlafzimmer, Frau Wehmeier gewährt mir einen kurzen Blick. Es ist spärlich eingerichtet, auf dem Nachttisch liegen Tabletten. An der Wand hängen Bilder ihrer Kinder, solche mit Kohle von einem Straßenzeichner, der in der Fußgängerzone die Leute malt.
Frau Wehmeier zeigt mir das Bad und ich erinnere mich, wie ich früher hier mit Caro und unseren Barbies in der Badewanne saß und wie wir anschließend heulten, wenn Mami unsere nassen Haare mit einem Kamm durchkämmte.
»Sind Sie bereit für die untere Etage?«, fragt Frau Wehmeier vorsichtig.
»Ja, okay …«, behaupte ich und gehe als Erste die Treppe runter. Vor der Kellertreppe lasse ich der Hausherrin den Vortritt. Sie knipst das Licht an. Damals war es stockdunkel. Jetzt ist die Treppe hell beleuchtet und an den Wänden hängen getrocknete Blumensträuße. Fehlt nur noch ein Wagenrad.
»Haben Sie keine Angst …«, sagt Frau Wehmeier beinahe zärtlich, dann packt sie mich am Handgelenk und zieht mich hinab.
»Könnten Sie das Licht bitte wieder ausmachen?«, frage ich.
»Warum?«
»Damals war es auch dunkel.«
Sie fragt nicht weiter, sondern tut mir den Gefallen.
Jetzt ist es dunkel, nicht so düster wie damals, aber auf jeden Fall sehe ich nicht mehr richtig, wo ich hinlaufe.
Zusammen mit Frau Wehmeier bewege ich mich vorsichtig die Treppe hinunter. Als ich höre, wie sie eine Türklinke runterdrückt, halte ich die Luft an. Was mache ich hier eigentlich, was für eine saublöde Idee, hierhin zu kommen, die Frau ist noch verrückter als ich, denke ich.
»Kommen Sie! Das ist doch nur ein Keller. Er hat eine Decke, vier Wände und zwei Fenster. Sie brauchen keine Angst zu haben.« Wenn sie wüsste …
Aber es ist sowieso egal, denn ich stehe ohnehin schon mitten im Keller, in dem es nach Weichspüler riecht. Mein Blick schweift über den Boden und findet den Abfluss. Da lag er.
Frau Wehmeier tritt neben mich und klopft mir zweimal kräftig auf das rechte Schulterblatt, so als sei ich ein Pferd, das gerade erfolgreich einen Turnierparcours bestanden hat. Ich kann mich nicht auf ein einziges Gefühl konzentrieren, ich habe so viele. Meine Angst wird zu Trauer und dann zu Entsetzen über das Ende von meinem Vater in diesem beschissenen Keller. Die Erinnerungen tun weh, aber ich kann jetzt hier vor Frau Wehmeier schlecht in Tränen ausbrechen und reiße mich zusammen, indem ich ganz fest auf meine Unterlippe beiße. Ich gehe in die Knie und streiche mit den Fingerspitzen über den kalten Boden. Er ist das Einzige, was mir bekannt vorkommt.
»Mein Vater lag genau hier …«, erkläre ich Frau Wehmeier, die jetzt doch ein bisschen verwundert wirkt.
»Machen Sie ruhig, lassen Sie sich von mir nicht stören.«
Ich schließe die Augen. In meinem Ohr höre ich die Geräusche, die der
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