Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
man, dass man im Norden ist: Die Umgebung wirkt so aufgeräumt und im Gegensatz zum Rheinland schnörkellos. Das Taxi fährt über Land. Überall sind Bauernfelder, mitten drin steht ein Storch. Eine Idylle, für mich ein Trugbild. Mit dieser Stadt verbinde ich das Böse. Dabei weiß ich noch nicht mal, welche Sehenswürdigkeiten die Stadt bietet, sondern nur, dass es ein Atomkraftwerk gibt.
Mir fällt auf, dass ich nicht nur wenig über Lingen, sondern auch über meinen Vater weiß. Also ich meine, so wenig Positives, es geht ja immer nur um die Horrorstorys. Er liebte Gegenstände aus Messing, man denke an Türklinken, Klingelschilder, Trompeten, Hupen und Kerzenständer, außerdem sammelte er Tintenfässer aus Kristallglas. Nach seinen Besuchen auf diesen Trödelmärkten, die am Wochenende auf Supermarktparkplätzen oder vor den Kirchen stattfinden, brachte er jedes Mal ein neues »Stehrümchen« – O-Ton meiner Mutter – mit, das dann auf der Fensterbank oder in seinem Setzkasten einen Platz bekam. Von uns Kindern standen darin fünf kleine Holztiegel mit Deckel, in denen die Milchzähne aufbewahrt wurden. Jeder hatte seinen Topf, auf dessen Vorderseite mit Brennglas der Name eingekokelt war. Meine Milchzähne habe ich heute immer noch, die sehen aus wie Mäusezähne. Laut meiner Mutter hatte mein Vater viel Humor und war supersportlich. Es gibt ein Urlaubsfoto von ihm, da springt er braungebrannt an einem Beachvolleyballnetz hoch und pritscht den Ball zurück. Meine Mutter erzählte, wie er bei Radtouren mit seinem Rennrad vornweg fuhr, freihändig mit meiner Schwester auf den Schultern. Man kann sagen, dass er ein Sonnyboy war. Meine Mutter sagt, genau das sei das Problem gewesen. Wenn hyperthyme – also lebhafte und aktive – Menschen eine Depression bekommen, endet es meistens mit einem Selbstmordversuch.
Ich bitte den Fahrer um eine Landkarte und fahre mit dem Zeigefinger die gemalte Straße vom Bahnhof bis zu der Adresse unseres alten Zuhauses nach. Es ist nicht mehr weit.
»Können Sie bitte langsamer fahren!«, rufe ich von der Rückbank nach vorn, denn ich erkenne jetzt nicht nur die Gegend, sondern auch einzelne Häuser wieder. Wir sind fast da. Da ist der Supermarkt, in dem wir zusammen mit meiner Mutter einkaufen waren und in dem sie so geweint hat, gleich kommt die große Kuhweide und dann das Haus. Plötzlich kommen mir auch die Straßennamen bekannt vor: Silbergrasweide, Fuchsbau und Nussbaumweg. Die Adressen klingen wie bei Harry Potter. Am besten gefällt mir die Adresse »Am Ameisenhügel«, da fängt es überall an zu jucken, wenn man das liest.
Das Taxi eiert im Schritttempo die Straße entlang, am Ende sehe ich den Wendehammer und dahinter die rote Rutsche vom Spielplatz – ich erkenne alles wieder. Der Fahrer beobachtet mich im Rückspiegel. Er scheint genervt zu sein, aber wenigstens lohnt sich die Gurkerei für ihn. Das Taxameter steht bei 45,90 Euro.
»Bitte fahren Sie noch langsamer«, sage ich zu ihm. Sein Blick fixiert mich im Rückspiegel. Ich setze mein schönstes Lächeln auf. Er lacht zurück und nickt. Da ist es: Unser altes Heim, das schöne, große Fachwerkhaus. Für mich ist es ein Massengrab. Hier starb nicht nur mein Vater – für mich starb hier meine ganze Familie, zumindest das Konzept einer Familie, wie ich es bis zu meinem fünften Lebensjahr kannte und welches ich mir bis heute zurückwünsche.
»So, da wären wir«, schmatzt der Fahrer. Als ich ihm mit den Worten »Stimmt so, danke« einen braunen Geldschein nach vorn reiche und mich verabschiede, wirkt er plötzlich sehr zufrieden, dreht sich sogar um und sagt ebenfalls Tschüss. Der alte Mercedes wendet und braust auf der Straße davon. Ich finde mich auf dem Bürgersteig wieder, den Caro und ich damals zusammen runterliefen, um vom Bauern frische Milch zu holen, jeder mit einer Alukanne in der Hand. Ich kann es nicht fassen, dass ich mich getraut habe, nach Lingen zu fahren. Jetzt bin ich hier und würde am liebsten sofort auf dem Absatz wieder kehrtmachen.
Ich streiche mit meiner Hand über die Planken des Gartenzauns und versuche, möglichst unauffällig durch die Hagebuttenbüsche zu spähen. Meine Mutter pflanzte damals Margeriten in den Vorgarten. Die Blumen sind weg, stattdessen wachsen nun überall Mooshügel. Auf den Fensterbänken stehen Kästen mit roten Blumen, ich glaube, es sind Geranien. Vor dem Haus, ungefähr da, wo unser Klettergerüst stand, ist jetzt ein Teich, an dessen Ufer zwei
Weitere Kostenlose Bücher