Hinter dem Mond
Vorwürfen, meinen schlechten Schulleistungen und dass ich generell eine Enttäuschung als Tochter sei und keinen Skikurs verdient habe, aber kein eiskaltes Nein.
»Wie? Warum?«
Er schüttelte wieder den Kopf und sagte angewidert: »Oberschenkelfraktur, Wirbelsäulenbrüche, Schädeltraumata, gesplitterte Gelenke, das kommt überhaupt nicht in Frage!«
Was redete er da?
»Aber Papa, die ganze Klasse fährt mit. Alle. Ich kann doch nicht als Einzige zu Hause bleiben, nur weil du Angst vor Brüchen hast!«
Mein Vater wiegte seinen Kopf hin und her und sagte auf Deutsch: »Doch. Sag dainen Lährrerrn, isch kann nischt mittfahrren, meine Eltern wollen das nischt. Wir fahrren kein Schi.«
Ich fing an zu heulen. Schlimmer als der verpasste Skikurs wäre die gesellschaftliche Schmach, als das Kind ohne Möglichkeiten geoutet zu werden, das Kind mit den uncoolsten Eltern der ganzen Klasse, das Kind, für dessen Eltern Skilaufen nicht selbstverständlich, sondern unvorstellbar war. Ich hätte das nie zugeben können. Ein Image-Schaden, den ich unter keinen Umständen bereit war, zu tragen. Lieber würde ich sagen, dass wir zu arm für den Skikurs seien. Aber dann würden andere Eltern für mich mitbezahlen.
Es folgten zwei unschöne Wochen, sowohl für mich als auch für meine Mutter und für meinen Vater. Ich zog alle Register, von Weinanfällen zu Erpressungen bis zu langen Überredungsdebatten. Ich flehte, ich bettelte, ich wälzte mich auf dem Boden und ich schwor, mir keinen Knochen zu brechen bzw. nie wieder fröhlich zu sein.
Nach zwei Wochen hatte ich ihn soweit. Er erlaubte es, aber nur unter der Voraussetzung, dass mir meine Mutter die teuerste, sicherste Hightech-Skiausrüstung kaufte, die es auf der Welt gab.
Es gab damals in Teheran einige Sportgeschäfte, die das neueste Zeug aus Österreich, Deutschland und Amerika verkauften. Merkwürdigerweise war das Importieren von Skiausrüstungen erlaubt, aber das von coolen Turnschuhen oder Markenjeans nicht.
Wir fuhren in die Mirdamad Avenue, wo ein neuer Laden direkt neben meiner geliebten Deutschen Buchhandlung eröffnet hatte. Bei den Sportfreaks war die Hölle los. Halb Teheran kaufte bei ein paar Jungs, denen der Laden gehörte, Skier und Zubehör. Ich wurde von einem von ihnen gemessen, gewogen und hingesetzt. Dann brachte er einen Technica-Skischuh nach dem anderen, bis mir endlich Größe 40 passte. Er sagte beeindruckt, er hätte in der Größe noch keinen Schuh an ein Mädchen verkauft. Dann suchte ich mir noch blaue Anfängerskier von Elan mit den teuersten Bindungen, die es gab, eine Carrera-Brille mit breitem Gummiband und Lederrennhandschuhe aus.
Einen Skianzug für mich hatten sie nicht, den sollte mir Pouri nach den Weihnachtsferien aus Deutschland mitbringen. Ich fand es toll, dass Paulis Mutter mir einen Skianzug mitbrachte, obwohl er selbst noch nicht mitdurfte. Er war ja ein Jahr jünger und erst in der vierten Klasse.
Eine Kolonne von gelben Schulbussen brachte uns durch das Elburz-Gebirge nach Dizin. Wir waren schon fast angekommen, da fing es so stark an zu schneien, dass innerhalb von Minuten die Straße weiß wurde. Wir hielten an, die Busfahrer holten die Ketten raus, und es dauerte ungefähr zwei Stunden, bis alle Reifen von sämtlichen Bussen Ketten hatten, und wir langsam und ratternd weiterfahren konnten. Als wir vor dem Hotelkasten ankamen, war es schon dunkel. Alles war weiß verschneit, und etwa hundert Meter vom Hotel entfernt war eine Liftstation. Um uns herum waren nur Berge, Schnee, Stille und Dunkelheit.
Das Zimmer, in dem ich mit sieben anderen Mädchen untergebracht war, war eigentlich eine zweistöckige Suite, in die man einfach noch ein paar Betten hineingestellt hatte.
Morgens um acht wurden wir telefonisch geweckt, dann gab es unten im Restaurant Frühstück, und um halb zehn mussten wir uns schon alle in voller Montur in der Hotellobby versammeln.
Danach begannen schreckliche Tage, gefüllt mit Blut, Schweiß und vielen Tränen. Direkt vor der Zwischenstation, wo wir mittags unter knallblauem Himmel in Liegestühlen in der Sonne saßen und Hamburger aßen, war der Idiotenhügel.
Wir verbrachten die Tage damit, mit den schweren Skischuhen an den Füßen, die noch schwereren Skier auf unseren schmalen Schultern, diesen Hügel hochzustapfen, um dann mehr liegend als stehend schnell nach unten zu kommen. Und wieder von vorne. Manchmal stolperte man auch auf halbem Weg, brach unter der Last der Skier zusammen,
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