Hinter dem Mond
überschlug sich mehrmals und bekam noch den Ski an den Kopf geknallt. Es war teilweise so unfassbar anstrengend und qualvoll für mich, dass mir die Tränen unter dem gelben Carreraschirm meiner Brille herunterliefen, sich mit meinem Rotz vermischten, um dann zusammen mit meinem Sabber in meinen Schal zu sickern, wo alles in der Kälte festfror. Trotz des herrlichen Wetters und der strahlenden Sonne war es auf dreitausendfünfhundert Metern Höhe im Januar natürlich entsprechend kalt. Abends tat mir jeder Knochen weh, und ich spürte die vielen Stürze am ganzen Leib. Unser Abendessen war leider nicht das À-la-Carte-Menü der anderen Hotelgäste, sondern das, was nach Ansicht der Hotelköche deutschen Schulkindern schmecken könnte. Ich aß das Würstchengulasch nicht und legte mich mit einer Tüte Chips ins Bett. Als das Licht ausging, musste ich plötzlich heulen, ich fand die anderen Kinder alle blöd, ich fühlte mich wahnsinnig allein und wollte zu meiner Mutter. Ich weinte vor Heimweh während der gesamten Woche fast jede Nacht heimlich in mein Kissen, ganz leise, damit es niemand merkte. Ich war noch nie so lange von zu Hause weg gewesen und schon gar nicht unter solch körperlich anstrengenden Umständen. Aber ich war nicht allein mit dem Problem, es wurde generell viel geheult. Wir waren eben alle noch ziemlich klein, und die Skilauferei machte die meisten von uns fertig. Als ich am dritten Tag auch noch nach dem Mittagessen den Hamburger erbrach und von unserem Lehrer alleine ins Hotel zurückgeschickt wurde, rief ich meine Mutter an.
»Mamaa«, jaulte ich und schilderte ihr alles in den düstersten Farben.
Meine Mutter wurde sofort aggressiv und schrie mich an: »Was? Die spinnen wohl! Was fährst du da auch hin? Ich habe dir doch gesagt, fahr nicht! Du musst sofort zum Arzt! Ich ruf jetzt Papa an, und wir holen dich, wenn’s sein muss, mit dem Hubschrauber!«
Ich erschrak. So war das nicht gemeint. Ich wollte nur ein bisschen wehleidig sein und eine Portion Mutterliebe. Aber sie zeterte schon wieder herum, was meine Schule für ein Saftladen sei, meine Lehrer für Penner, und ich solle sofort nach Hause.
»Nein, Mama, ich komm nicht nach Hause. Es ist super hier.«
Danach riss ich mich zusammen. Und als ich am nächsten Tag den Idiotenhügel im Schneepflug nach unten fuhr und sogar bremsen konnte, dann zu den Auserwählten gehörte, die schon auf den Tellerlift durften, machte alles plötzlich Sinn. Zehnmal aus dem Tellerlift zu fliegen, bevor man endlich mit wackeligen Beinen oben ankam, um dann dort oben am Ende der Liftspur mit dem Metallstab zwischen den Beinen in der Luft hängenzubleiben, weil man sich nicht traute, abzuspringen, war nicht mehr ganz so schlimm.
Angela hatte sich gleich am ersten Tag, nachdem sie, genau wie jeder im Kurs, vor versammelter Mannschaft den Hügel hinuntergekugelt war, von uns allen verabschiedet und in einen der Liegestühle vor das Restaurant gesetzt, sich gesonnt und uns nur noch angewidert zugesehen. Sich abzuquälen war unter ihrer Würde. Ich fand das mehr als scheiße von ihr. Wir sind hier im Krieg, erklärte ich ihr. Einer für alle, alle für einen. Das hatte ich irgendwo gelesen. Sie war dadurch kein vollwertiger Kamerad mehr für mich. Die Option Verweigerung kam mir hier ausnahmsweise überhaupt nicht in den Sinn. Ich wollte unbedingt Ski laufen können, so wie alle coolen Leute, so wie die Älteren, die bei unserem Aufstieg mit den Skiern auf den Schultern sst-sst-sst an uns in kleinen schnellen Schwüngen elegant vorbeifuhren und uns mit feinem Schneestaub bedeckten, während ich ihnen bewundernd hinterher sah und mir die Rotz-Tränen-Speichel-Mischung von der Oberlippe leckte.
Aber Angela ließ sich nicht von mir überreden, mitzumachen. Und als wir nach einer Woche wie normale Skifahrer mit dem Sessellift ganz nach oben fuhren, um dann die gesamte Piste nach unten zu fahren, und einer nach dem anderen im Schuss mit den Stöcken unter den Armen wie kleine Raketen an ihrem Liegestuhl vorbeischossen, tat sie mir auf eine ganz eklige Art leid: Ich fühlte mich plötzlich sehr stark und ihr haushoch überlegen. Denn ich hatte etwas in mir entdeckt, was ich von mir selbst nicht kannte: Ehrgeiz und die Kraft, etwas zu erreichen, was ich unbedingt wollte.
Das Leiden hatte sich mehr als gelohnt.
Als wir endlich am siebten Tag am späten Nachmittag in einer gelben Buskolonne auf dem Bushof einfuhren, standen schon überall Mütter mit kleinen
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