Hinter der Nacht (German Edition)
gerne.“ Ihre Stimme ist beinahe sanft, und es klingt fast so etwas wie
Bedauern aus ihr. „Aber das geht nicht.“
Eine eisige
Faust greift nach meinem Herzen. „Was soll das heißen? Ihr wollt sie doch nicht
etwa auch…“
„Von Wollen kann keine Rede sein, wirklich nicht!“, fällt sie mir ins Wort, immer noch in
diesem bedauernden Ton. „Aber uns bleibt keine andere Wahl. Unsere Sicherheit
geht vor. Sie hat uns gesehen!“
Erst da erkenne
ich die ganze Wahrheit, und mit einem Mal stürzt alles, an das ich geglaubt
habe – mein ganzes Leben lang felsenfest geglaubt habe – wie ein Kartenhaus in
sich zusammen, und ich erkenne, welchen fatalen Fehler ich gemacht habe. Ich
bin wie betäubt. Das kann nicht sein! Das können sie nicht tun! Doch nicht sie,
die Wächter! Doch nicht diejenigen, die unerschütterlich und unanfechtbar über
die Gebote wachen! Die einzige wahre moralische Instanz! Sie können doch nicht
aus rein egoistischen Gründen ein unschuldiges Leben auslöschen! Nur wegen
ihrer Sicherheit! Wenn sie das tun, dann sind sie nicht besser als jeder
Mensch! Im Gegenteil!
„Das könnt ihr
nicht machen! Sie hat mit dem Ganzen nichts zu tun! Sie ist unschuldig!“ Mit
aller Kraft versuche ich, meine Fesseln zu zerreißen. „Ihr könnt sie doch nicht
einfach ermorden! Sie hat euch nichts getan!“ Ich verdopple meine
Anstrengungen, aber leider haben die beiden offenbar ganze Arbeit geleistet.
Außer, dass die Schnüre noch tiefer in meine Haut schneiden, zeigt sich keine
Wirkung.
„Sie hat sich in
Dinge eingemischt, die sie nichts angehen.“ Der Mann klingt so ungerührt wie
zuvor. „Wer sich mit den Wächtern anlegt, muss die Konsequenzen tragen. Das
Gesetz ist eindeutig. Es gibt keine Ausnahmen.“ Ich sehe, wie er neben seine
Begleiterin tritt und sie ansieht. „Bringen wir es zu Ende.“
„Nein!“ Ich brülle wie von Sinnen und werfe mich verzweifelt hin und her. Ich muss sie retten! Es muss einen Weg geben! Gott kann doch so etwas nicht
zulassen! Nicht, wenn er die Menschen liebt! Er kann nicht wollen, dass
Clarissa stirbt! Und ich kann es auch nicht!
Doch Gott
schweigt. Nur seine beiden Wächter ragen hoch über mir auf in den Himmel. Dann
greift der Mann in seine Jacke und holt etwas Längliches, kalt Blitzendes
hervor. Er tritt zu mir.
„Oh nein, bitte
nicht! BITTE NICHT! NEIN! NEIIIN! “
Clarissas Schrei
stellt mich augenblicklich ruhig. Alles um mich herum wird unwichtig, und ich
sehe, höre und fühle nur noch sie.
„Clarissa! Bitte
nicht! Es tut mir leid! Bitte verzeih mir! Bitte!“ Verzweifelt verankere ich
meinen Blick in ihrem, und obwohl ihr Gesicht tränenüberströmt ist, erwidert
sie meinen Blick mit ihren wunderschönen schwarzen Augen. Eine ganze Welt liegt
darin. Eine wunderschöne Welt. Eine Welt, die ich von mir gewiesen und mit
Füßen getreten habe, bis es zu spät war. Alle Bilder unserer Freundschaft
ziehen blitzartig an mir vorbei, aber ich vergesse sie genauso schnell wieder.
Nur ihr Blick bleibt und wankt nicht.
Ich merke kaum,
wie die Wächterin sich mit beiden Knien auf meinen Schultern niederlässt und
mich auf den Boden presst, und auch nicht, wie ihr Partner sich neben mich
kniet und seine Hände wie zum Gebet erhebt. Ich weiß, was er festhält. Es ist
die wichtigste Waffe der Wächter. All ihre Urteile vollstrecken sie damit.
Ich sehe nur
Clarissa. Ich bitte sie stumm, mir zu verzeihen. Auch wenn ich weiß, dass das
nicht möglich ist.
Meine letzte
Bitte richte ich an Gott. Auch wenn er Clarissa im Stich gelassen hat, wünsche
ich nun mit aller Inbrunst, dass er sie zu sich nehmen möge. Und sie nicht noch
mehr leiden lässt.
Die Klinge fährt
wie ein Blitz hinab. Ich höre einen Schrei – es ist nicht meiner - und fühle
einen kurzen, unerträglich glühenden Schmerz, als der eiskalte Stahl in meine
Brust fährt. Dann wird alles dunkel.
Tod
Clarissa
Die beiden Typen
hielten mich an den Schultern und Füßen gepackt und trugen mich vom Motorrad
weg. Von meiner Umgebung bekam ich nicht viel mit, da ich nach dem unsanften
Bremsmanöver all meine Kraft brauchte, um wenigstens halbwegs bei Bewusstsein
zu bleiben. Trotzdem merkte ich kurz darauf, wie meine Träger stehen blieben.
Dann veränderte
sich meine Position ohne Vorwarnung von der Waagerechten in die Senkrechte.
Mein Magen rutschte mir in die Füße. Ich riss erschrocken die Augen auf, aber
außer Dunkelheit war nichts zu sehen. Es war ein Gefühl, als würde ich direkt
in
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