Hinter Jedem Konflikt Steckt Ein Traum, Der Sich Entfalten Will
bleiben und sagen: »So, und jetzt bringe ich dich in dein Zimmer.« Rosa S. spürt nach dem kurzen Rollenspiel, dass sich etwas in ihr verändert hat. Mit dem Seitenwechsel kann sie sowohl ihren Plan verfolgen und streng sein, aber auch liebevoll bleiben. Sie stellt sich noch einmal in die Position ihres Sohnes und ist sich sicher, dass ihre neue Haltung gut für ihn ist. Er darf jetzt so fühlen und sein, wie er ist. Und sie auch.
Nach zwei Wochen bekomme ich eine erste Rückmeldung von ihr: Drei Tage sei sein »Aufstand« stärker und stärker geworden, dann habe er akzeptiert, im eigenen Bett zu schlafen.
Es macht einen Unterschied, ob Eltern von ihren Kindern eine Verhaltensänderung oder Unterwerfung verlangen.
Wenn Eltern mit ihren Kindern über Verhaltensänderungen zu lange diskutieren, sollten sie sich fragen: Was will ich genau? Will ich Unterwerfung oder eine Verhaltensänderung? Unterworfene Kinder – darin unterscheiden sie sich nicht von Erwachsenen – boykottieren Verhaltensänderungen. Sie nehmen die Rolle des Gegners ein, der dann später auch bei völlig verständlichen Wünschen der Eltern Nein sagt. Wenn Kinder und Jugendliche Anordnungen befolgen und sie trotzdem »doof« oder »bescheuert« finden dürfen, findet keine Unterwerfung statt. Sie behalten auf einer tieferen Ebene ihre Würde, auch wenn sie sich in Zukunft anders verhalten müssen und das auch tun.
Eine gute Frage: Auf welcher Seite stehe ich?
Auf meiner Tour als Streitschlichterin lernte ich eine ältere Dame kennen, die bereits in der dritten Generation um ein altes Wegerecht kämpfte und ihr ganzes Leben diesem Rechtsstreit gewidmet hatte. Schon als ich zur ihr fuhr, und es war alles andere als einfach, sie zu finden, warnten mich Nachbarn vor der »seltsamen Frau« – ich nenne sie hier Frau K. Als ich bei ihr zu Hause war, baute sie mehrere Aktenordner mit gerichtlichen Vorgängen und Fotos vor mir auf. Ich sollte mir alles anschauen und ihr endlich recht geben: wie recht sie hat mit ihrem Kampf und wie schlimm doch die anderen sind, die das nicht einsehen und ihr das Leben schwermachen. Sie redete viel, ich redete viel und stellte mich mal auf die eine, mal auf die andere Seite, bis ich am Ende merken musste, dass meine Beratung und Intervention nur einen Sinn und Zweck gehabt hatten: Ich sollte ihr eine Quittung ausstellen über eine Beratung zum Wegerecht von anno dazumal. An einem weiteren Gespräch oder an einer Kontaktaufnahme mit den »bösen« Nachbarn war Frau K. nicht interessiert. Die Quittung wollte sie abheften und als Beweis dafür verwahren, wie sehr sie um das Wegerecht kämpfen muss und wie viel es sie immer wieder kostet.
Dieser Jahrhundertkonflikt ist ein schönes Beispiel für ein echtes Dilemma, aus dem Rechtsanwälte und Gerichte häufig keinen wirklichen Ausweg finden. Es gibt die Illusion einer eindeutigen rechtlichen Lösung, die ja auch tatsächlich gefunden wird – der
Konflikt jedoch bleibt davon unberührt. Meine These ist: Der Konflikt hält sich so beharrlich, weil die Konfliktpartner nicht in der Lage sind, die Seiten zu wechseln. Sie haben in einem solchen Wegerechtsfall, egal ob Sie Eigentümer oder Nutzer sind, immer zwei Seiten zu berücksichtigen, die sich zum Teil widersprechen. Genau genommen müsste eine Familie, die ein individuelles Wegerecht eingeräumt bekommt, dankbar für die Nutzung und ständige Anpassung und Verbreiterung des Weges durch die Besitzer sein. Dankbarkeit aber beinhaltet die Einsicht, dass der andere mir etwas Besonderes gegeben hat und dass das nicht selbstverständlich ist. Die eigene Seite, die ja ihr Recht hat, müsste kurzfristig verlassen werden, was als Rangverlust erlebt und deswegen häufig vermieden wird. Nur auf der eigenen Seite zu stehen und auf das eigene Recht zu pochen geht aber auch nicht ohne Reibung, weil dann die Dankbarkeit fehlt, und ohne Dankbarkeit und Einsicht, dass der andere einen Verzicht auf Eigentum übt, kann die eigene Seite nicht in Ruhe eingenommen werden. Sie braucht dann die Bestätigung der anderen, die das aber so lange verweigern, bis endlich mal einer Danke sagt. Für die Lösung in einem solchen Konflikt braucht es die Fähigkeit, nicht nur eine, sondern zwei Seiten einzunehmen und zu verstehen.
Wenn wir aus einem schmerzhaften Konfliktmuster aussteigen wollen, sollten wir beide Seiten verstehen.
Als ich die aufgeregte Frau K. nach einer Weile fragte, ob schon jemals ein Dankeswort die Seite oder ein Blumenstrauß
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