Hinter Jedem Konflikt Steckt Ein Traum, Der Sich Entfalten Will
seinen Besitzer gewechselt habe, beispielsweise als die Nachbarn das letzte Mal den Weg
für sie verbreiterten, schaute sie mich verdattert an und sagte mit einem bitterbösen Blick: »Wieso soll ich mich bedanken, es ist doch mein Recht.«
Wenn ich mich auf die Seite von Frau K. stelle, spüre ich, wie schwer es für sie nach der hundertjährigen Auseinandersetzung ist, ihre Position aufzugeben. Schließlich hat sie ihr Leben in den Dienst der Gerechtigkeit um diesen Weg gestellt, war bei ihrer Mutter geblieben, hatte keine eigene Familie gegründet. Der Kampf um das Wegerecht war ihr zur Lebensaufgabe geworden. Es mag sich so anhören, als sei die alte Dame für die verfahrene Situation alleine verantwortlich, doch das glaube ich nicht. Um einen solchen Konflikt aufrechtzuerhalten, braucht es immer die andere Seite, die mit zum Blühen eines scheinbar unlösbaren Interaktionsmusters beiträgt. Dieses hat sich so tief in die Köpfe und Gemüter eingegraben, dass es sich nicht ohne Unterstützung löschen und neu schreiben lässt. Es ist wie in einem Cartoon von Alfred Taubenberger: Zwei Personen laufen mit erschrecktem Blick auf den Schienen vor einem Zug davon. Rund um sie herum ist freies Land und Wiese. Da sagt der eine zum anderen: »Wenn nicht bald eine Weiche kommt, sind wir verloren.« Beide haben das gleiche Denkmuster und sind überzeugt, man könne nur über die Schienen vor dem Zug davonlaufen. Wenn nur einer von ihnen zur Seite springen und den anderen durch das lebensrettende Vorbild mitreißen würde, könnten sie ausruhen, die Landschaft genießen und den Zug und damit auch die Gefahr passieren lassen. So ist es auch mit eingeschliffenen Interaktionsmustern. Sobald die eine oder der andere etwas tut, das
einen tatsächlichen Unterschied macht, funktioniert das Muster nicht mehr – es sei denn, beide beschließen, dass sie es zurückhaben wollen, weil sie ohne den Streit nicht mehr leben können. Manche Menschen werden süchtig nach der immer gleichen und nie funktionierenden »Lösung« in einem Konflikt. Die Sehnsucht aber ist wie bei allen Süchten groß und wird sich auf die anvisierte Weise nicht erfüllen und als Illusion erweisen.
Wenn Menschen über Jahre miteinander streiten, brauchen sie die Unterstützung der Gemeinschaft, die so etwas über sich selbst lernen kann.
In diesem Konflikt steckt auch ein bedeutsames Gemeinschaftsthema, immerhin hat das Dorf über mehr als hundert Jahre zugeschaut und die Polarisierung der beiden Seiten unterstützt, beispielsweise indem sie Frau K. seltsam finden und andere vor ihr warnen. Frau K. ist möglicherweise die Verbündete der ganzen Gemeinschaft, die davon träumt, etwas Bedeutsames über sich selbst herauszufinden. Als prozessorientierte Streitschlichterin wünschte ich mir, in einem solchen Konflikt einmal eine ganze Gemeinde zusammenzubringen. Alle könnten beispielsweise in einem offenen Forum darüber nachdenken, wie sie selbst mit Eigentum umgehen und wie schwer es fallen kann, großzügig zu sein oder mehrere Seiten gleichzeitig zu berücksichtigen. Es wäre doch interessant zu erfahren, dass wir möglicherweise mitverantwortlich sind, wenn es Menschen, Einzelpersonen oder Gruppen in unseren Gemeinschaften nicht gut geht, und wir alle etwas tun können, damit es anders wird. In einer solchen Gemeinschaft, die Verantwortung übernimmt und zudem Lust hat, etwas
über sich selbst herauszufinden, könnte Frau K. die Unterstützung bekommen, die sie braucht, um den Jahrhundertkampf in ihrer Familie aufzugeben. Aber selbst wenn sie ihn nicht mehr aufgeben kann, könnten die Nachbarn sie besser verstehen und wieder in die Dorfgemeinschaft integrieren.
Der Wechsel auf die eigene Seite wirkt Wunder
Fallbeispiel
In diesen Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem jungen Mann, ich nenne ihn Jens F., der einen Dauerkonflikt mit seiner Partnerin hat. Da sie beide weit auseinander leben, sehen sie sich meist nur am Wochenende. Er wünscht sich mehr Verständnis von ihr und will von ihr so gesehen werden, wie er ist. Sie wünscht sich von ihm mehr Verbindlichkeit und will von ihm geheiratet werden. Es ist immer das gleiche Muster, an dem sie beide festhalten. Sie sind beide überzeugt, dass alles gut gehen könnte, wenn der andere nur die Wünsche und Forderungen endlich erfüllte. Das tut aber weder er noch sie und wenn doch, dann immer nur ein bisschen. Beide stehen mit ihrem Kampf in einem Niemandsland, weder richtig auf der einen noch auf der anderen
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