Hinter verschlossenen Türen
drückender Mittellosigkeit, von Ehrgeiz getrieben, nichts kannte als seinen eigenen engen Gesichtskreis, der ihm jeden freien Ausblick verschloß. Kameron empfand Mitleid mit der Betörten. Nicht jenes Mitleid, das der Liebe verwandt ist. Lieben konnte er das Weib nie mehr, das seinem Stolz eine so tiefe Wunde geschlagen; jeder Keim seines Gefühls war in seinem Herzen erstickt. Und doch erkannte er klarer als je zuvor, wie schön sie war, wie reizend und fesselnd in ihrer ganzen Erscheinung. Erst jetzt wußte er, wie begehrenswert sie sei, nun er sie für immer verloren. Deutlich stand sie ihm vor der Seele – nicht das verzweifelte, fassungslose Weib, das er in jenem verhaßten Moment durch den Vorhang erspäht – nein,die Genofeva, wie er sie bei seinem letzten Besuch gesehen. Damals hatte er in ihrem schüchternen, fast flehenden Blick, in ihrem bestrickenden Lächeln ein innigeres Gefühl zu lesen gemeint, und dies Bild war unauslöschlich in seine Erinnerung eingegraben. Stets sah er ihr Gesicht vor sich wie in jenem Zimmer und er vermochte es nicht aus seinen Gedanken zu bannen.
Um sich zu zerstreuen, stand er vom Sitze auf, trat auf die Plattform, sprach mit verschiedenen ängstlichen Mitfahrenden, mit dem Zugführer – vergebens! Während der endlos langen Wartezeit war er kaum imstande, sich zu vergegenwärtigen, daß er nicht als glücklicher Bräutigam einem fröhlichen Hochzeitsfest entgegenfahre, daß ihn kein ehrenvoller Empfang, kein Gruß der Liebe erwarte. Was er auch tat und sprach, überall schwebte ihm jenes entzückende Bild vor Augen, und die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden erschienen ihm wie ein unheimlicher, wüster Traum.
Während der ganzen Zeit hatte Gryce mit keinem Wort das Schweigen gebrochen. Erst als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, fand er die Sprache wieder.
Fünfunddreißig Minuten verloren, bemerkte er, das ist freilich schlimm. Jetzt müssen uns die Götter günstig sein, damit wir noch unser Ziel erreichen. Lassen Sie uns an die Wagentür treten, wir können dann gleich hinaus – jede Sekunde ist kostbar!
Kaum hielt der Zug an der 125. Straße, so war auch Gryce schon aus dem Wagen und die Treppe der Hochbahn hinunter, Kameron folgte, und in atemlosem Lauf gelangten sie an die Bahn, welche die Stadt durchkreuzt. Sie fanden sofort Anschluß und stiegen richtig um dreiviertel auf acht an der St. Nikolaus-Avenue aus. Nur noch eine kleine Strecke zu Fuß, und sie hatten das Haus erreicht. Da rollte ein Wagen an ihnen vorüber.
Großer Gott! keuchte Kameron, ist das ein Hochzeitsgast?
Ein zweiter Wagen folgte, ein dritter, immer neue kamen auf der Straße einhergefahren.
Der kalte Schweiß trat dem Doktor auf die Stirn. Himmel, daran habe ich gar nicht gedacht, stöhnte er.
Es war kaum anders zu erwarten, entgegnete der Detektiv. Bis zuletzt haben die Eltern auf die Rückkehr der Tochter gehofft, es war daher unmöglich, die Gäste noch zu benachrichtigen, daß die Hochzeit nicht stattfinden könne. Alle Vorbereitungen müssen getroffen worden sein.
Entsetzlich! murmelte der Doktor und blieb stehen, als sei er außer stande, einen Schritt vorwärts zu tun. Doch überwand er die augenblickliche Schwäche und folgte seinem voraneilenden Begleiter.
Unterdessen fuhren die Wagen einer nach dem andern in langer Reihe vor, die Insassen stiegen aus, die Türen wurden zugeschlagen. Alles schien im besten Gange, keine Verwirrung, keine Unruhe war bemerkbar.
Was soll das heißen? rief Kameron, den Detektiv krampfhaft am Arm fassend, die Gäste treten ein, man bewillkommnet sie, das ganze Haus ist von oben bis unten erleuchtet. Mir steht der Verstand still. Hoffen denn die törichten Eltern noch immer auf ihre Rückkunft?
Gryce zog ihn schleunigst mit sich fort.
Vorwärts, rief er, halten Sie sich nicht auf. Vergessen Sie alles andere, sorgen Sie nur, daß wir unbemerkt ins Haus gelangen. Führt keine Türe durch das Souterrain?
Das wohl, aber treten wir lieber durch die Seitenpforte ein, das fällt niemand auf, dort erwartet man mich.
Sie machten sich Bahn durch die Schar der Neugierigen, die ihnen den Weg versperrten, und erreichten den Seiteneingang. Lichterglanz strahlte ihnen aus den Fenstern entgegen,alles war mit Grün geschmückt. Beim Oeffnen der Tür vernahmen sie buntes Stimmengewirr, in das sich die festlichen Klänge eines Orchesters mischten. Nicht das Festgepränge fesselte jedoch ihre Aufmerksamkeit, sondern die stattliche Gestalt des
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