Hinter verschlossenen Türen
wollte mich nicht wieder von sich lassen, obschon ich fürchtete, meinen Besuch bereits allzusehr ausgedehnt zu haben. Wir verglichen unsere äußere Erscheinung vor dem Spiegel, um einen Unterschied zu entdecken, ihre Hände waren etwas schmaler, ihr Grübchen im Kinn weniger tief als das meinige; unsere Füße waren aber gleich groß, und als sie mir einen ihrer Hüte aufsetzte, wußte ich kaum, ob es ihr Gesicht sei oder mein eigenes, das mir aus dem Spiegel entgegenlächelte.«
»Im allgemeinen schienen meine Mitteilungen sie weit weniger beunruhigt zu haben, als ich erwartete, Sie freute sich über das neue Lebensinteresse, das sich ihr bot und versprach mir ihren Besuch für den folgenden Tag. Ihre Kundschaft, um die ich gebeten hatte, sollte uns den besten Vorwand liefern, einander häufig wiederzusehen. So wurde die eine Schwester die Schneiderin der andern, und es entspann sich zwischen uns ein reger Verkehr, von welchem damals freilich kein Mensch voraussehen konnte, daß er so schrecklich in Verzweiflung und Tod enden werde.«
»Ihren stolzen Pflegeeltern verbarg Genofeva aus verschiedenen Gründen, was zu ihrer Kenntnis gelangt war, überzeugt, dadurch manches Unheil zu verhüten. Um das Geheimnis zu wahren, erschien sie am nächsten Tage gleichfalls tief verschleiert in unserer ärmlichen Behausung. So wenig dieselbe zu ihren Lebensgewohnheiten paßte, sie schien sich dort schnell heimisch zu fühlen und widmete sich mit Eifer den neu entdeckten Verwandten. Vielleicht empfand sie in der leidenschaftlichen Umarmung meiner Mutter eine Liebeswarme, die sie bisher nicht gekannt, aber größernoch war der Einfluß, den Doktor Molesworths ernste schwermütige Augen schon bei der ersten Begegnung auf sie ausübten.«
»Er war der Arzt meiner Mutter und besuchte sie täglich. Auch an jenem Tage wollte er wie gewöhnlich nach der Kranken sehen; als er auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, glaubte er, sie schliefe und trat leise ein. In der Meinung, die Türe sei verschlossen, hatten wir jede Vorsicht außer acht gelassen; wir waren von seinem Erscheinen völlig überrascht und hielten uns für verloren. Genofeva stand ohne Schleier neben mir, und unsere auffällige Aehnlichkeit ließ sich nicht verbergen.«
»Für meine Schwester hatte der Augenblick höchst peinlich sein müssen, aber sie zeigte weder Unruhe noch Besorgnis, auch erhob sie keinerlei Einwendung, als meine Mutter dem Doktor die Lage der Dinge auseinandersetzte. Die Blicke bei beiden hatten sich getroffen, und von dem Moment an war Genofeva Gretorex wie umgewandelt.«
»Mir war ihre plötzlich erwachte Leidenschaft völlig unbegreiflich; ich konnte an Doktor Molesworth nichts Anziehendes finden, während der Verlobte meiner Schwester alle Vorzüge besaß, um das Herz eines jeden Mädchens zu beglücken, mochte es arm sein wie ich oder in vornehmen Verhältnissen aufgewachsen. Zwar war mir Doktor Kameron bei meinen häufigen Besuchen im Hause Gretorex nur einmal zu Gesicht gekommen, aber sein gütiger Blick, sein freundliches Lächeln hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. An der Seite eines solchen Mannes schien mir Genofevas Los beneidenswerter als je, während ich nach dem Tode meiner Mutter einsam und verlassen dastehen würde. Sie dagegen wußte die Gunst ihres Schicksals nicht zu schätzen und pries mich glücklich wegen meiner Freiheit.«
»Die Tage vergingen, die Schwäche meiner Mutternahm zu, sie fühlte ihr Ende herannahen; Genofeva ahnte nichts davon, ich durfte sie auch nicht herbeirufen, denn andere Menschen waren zugegen, wir beide hätten nicht zusammen am Sterbebett weilen können, ohne das Geheimnis zu verraten.«
»Aus Liebe zu meiner Mutter, die in der Todesstunde keine Ruhe finden konnte, ohne die wiedergefundene Tochter noch einmal an ihr Herz zu drücken, faßte ich einen schnellen Entschluß; ich flüsterte der Kranken ins Ohr, ich wolle ihr die Heißgeliebte herbeiholen, und von ihrem dankbaren Blick geleitet, begab ich mich auf dem kürzesten Wege in das Haus Gretorex. Meine Schwester säumte nicht, meinem Ruf zu folgen, wir wechselten die Kleider, sie ging, um den Segen der sterbenden Mutter zu empfangen und ich blieb an ihrer Stelle zurück. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Dort am Sterbelager traf Genofeva den Doktor, und als meine Mutter in ihren Armen verschieden war, zog er sie an seine Brust, sagte ihr, daß er sie liebe und trug ihr seine Hand an.«
»Es war ihm durchaus nicht unbekannt, in was
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