Hinter verschlossenen Türen
für Verhältnissen sie lebte, und welches ihre gesellschaftliche Stellung war, auch wußte er das reiche Mädchen in jeder Verkleidung von dem armen zu unterscheiden. Damit will ich nicht etwa sagen, daß Julius Molesworth meine Schwester um des Geldes willen heiraten wollte. Auf Reichtum legte er sehr wenig Wert. Aber, daß sie aus vornehmem Stande war, die Tochter eines angesehenen Mannes, daß sie um seinetwillen von ihrer stolzen Höhe herunterstieg, Genuß und Wohlleben aufgab, um seine Armut zu teilen: dies Bewußtsein erfüllte ihn mit Freude und Genugtuung. Ihr Bild erschien ihm in immer verklärterem Lichte, so oft er ihrer gedachte, bis er zuletzt glaubte, sie wirklich zu lieben.«
»Genofeva von seiner Liebe zu überzeugen, ward ihmnicht schwer, denn sie hatte ihr ganzes Herz an ihn gehängt und war trostlos bei dem Gedanken, ihre Verlobung mit Doktor Kameron nicht auflösen zu können. Sie fragte mich um Rat, aber wie gern ich ihr auch geholfen hatte, ich wußte keinen Ausweg. Trotzdem hielt sie hartnäckig an ihrer Hoffnung fest, schickte durch mich Grüße und Botschaften an Doktor Molesworth und ließ ihn in Ungewißheit, ob sie ihm angehören könne oder nicht, obgleich der Tag ihrer Hochzeit immer näher heranrückte und die Vorbereitungen zu dem glänzenden Fest bereits getroffen wurden.«
»Zuletzt offenbarte sie mir den Plan, den sie in ihrer verzweifelten Lage gefaßt hatte, und suchte mir zu beweisen, mit welcher Leichtigkeit es sich ausführen ließe, daß wir die Rollen miteinander tauschten. Ich hörte ihr voll Staunen, voll Verwirrung und Entzücken zu, als sie halb scherzend, halb bittend ausrief: Meinen Anteil an den Freuden des Reichtums habe ich zur Genüge genossen; jetzt, Mildred, nimm du den deinigen!«
»Die Worte fanden lauten Widerhall in meinem schwachen, unzufriedenen Herzen. Die alte Sehnsucht, der alte Neid erwachte darin mit verdoppelter Gewalt. War doch die Absicht meiner Mutter, mich der vornehmen Dame zu übergeben, bei der Wahl des Kindes nur durch eine Laune dieser Dame vereitelt worden, die mich aber um mein Glück betrog. Ich ward rot und zitterte vor Verlangen, obgleich ich nicht glaubte, daß meine Schwester es mit ihrem Vorschlag ernst gemeint haben könne.«
»Sie sah meine heftige Erregung und schlug mir lachend vor, einige Proben anzustellen. Nun folgten die mancherlei Versuche, über welche Genofeva in ihrem Tagebuch Bericht erstattet hat, und deren unerwarteter Erfolg uns bald überzeugte, daß wir ohne Furcht vor Entdeckung den Tausch wagen dürften.«
»Bald war die Ausführung des Planes beschlosseneSache. Ich fühlte Mut selbst zu dem gewagtesten Unternehmen, um des herrlichen Preises willen, der mir winkte. Die Sehnsucht meines Lebens sollte sich erfüllen, Mangel und Armut für immer verschwinden; ich sollte das vornehme Fräulein werden, das Herrn und Frau Gretorex Vater und Mutter nannte, und bald würde mich der herrlichste der Männer, Doktor Kameron, als seine Gattin begrüßen. Zwar hatte ich ihn nur flüchtig gesehen, aber ich trug sein Bild im Herzen und war für ihn von jenem Gefühl beseelt, das mit gleicher Stärke und Innigkeit nur einmal im Leben die Brust des Weibes bewegt.«
»Vor mir tat sich eine beglückende Zukunft auf, und alle Kräfte meines Geistes begannen sich frei und reich zu entfalten. Meine Schwester, welche die Welt kannte, sprach wohl öfters die Befürchtung aus, unser Vorhaben könne auf Hindernisse stoßen, aber ich suchte sie zu beruhigen und bereitete mich mit Ernst und Eifer vor, den Platz, welchen ich einnehmen sollte, auch würdig auszufüllen. Genofeva stand mir dabei mit Rat und Tat zur Seite, sie leitete mich durch ihr Urteil, und die letzten Tage, welche wir zusammen in dem kleinen Badeort verbrachten, benutzte ich besonders dazu, mich mit allem vertraut zu machen, was mir für das neue Leben förderlich und nützlich sein würde.«
»So kam der Hochzeitstag heran. Voll froher Hoffnung trennten wir uns; jede ging ihrer Bestimmung entgegen. Genofeva zweifelte keinen Augenblick, daß sie Doktor Molesworth nur eine Botschaft zu schicken und ihm ihre Entscheidung mitzuteilen brauche, dann werde er auf den Flügeln der Liebe zu ihr eilen, um sie nie wieder von sich zu lassen.«
»Was mich betrifft, so betrat ich das prächtige Haus auf dem Nikolasplatz mit weit mehr Freude als Bangigkeit im Herzen. Ich stand am Ziel meiner Wünsche und hattekein anderes Verlangen, als das Leben meiner Schwester weiterzuführen,
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