Hinter verschlossenen Türen
Stück Möbel, das Genofeva aus ihrem Elternhaus mitgenommen; obgleich es häßlich war und unbequem, sie auch seines Wissens niemals Gebrauch davon machte, hatte sie es dennoch herüberschaffen und in das zierliche Boudoir, zu dessen Ausstattung es ganz und gar nicht paßte, stellen lassen. Das mußte einen besonderen Grund haben. Wäre es möglich, daß – er sprang auf, eilte nach dem Sofa und fuhr mit der Hand rings unter dem Sitz herum. Jetzt berührte er einen glatten runden Gegenstand, Er zog ihn heraus – es war eine Papierrolle; o Wunder, er erkannte die engbeschriebenen Seiten und das blaue Band, das darum gewickelt war.
Wie selten es sich auch ereignen mag, daß wir, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, durch bloßes Nachdenken auf eine richtige Spur geleitet werden – hier lag ein solcher Fall vor. Es wäre hundert gegen eins zu wetten gewesen, daß die Rolle vernichtet oder an einem Platz aufbewahrt worden sei, der ihm nicht zugänglich war. Von alledem war das Gegenteil geschehen, und Kameron erkannte dankbar, daß ein günstiges Geschick ihn den wichtigen Fund hatte tun lassen.
Ehe er die Sache näher untersuchte, ja ehe er auch nur die Rolle aufband, trat er ins Nebenzimmer, das er erst vor wenigen Minuten verlassen hatte. Ihm schienen seitdem Stunden vergangen zu sein, denn dazwischen lag ja das merkwürdige Ereignis, welches den ganzen Verlauf der Dinge ändern konnte.Der Zustand seiner Gattin war sich gleich geblieben; sie verharrte unbeweglich wie zuvor, nur eine ihrer weißen Hände lag auf der Decke, regungslos, wie aus Wachs geformt. Mit unaussprechlicher Zärtlichkeit beugte sich Kameron zu ihr nieder, er drückte einen Kuß auf die Hand, und seine Augen wurden feucht. Noch nie im Leben hatte der starke Mann sich so von seinem Gefühl überwältigen lassen. Hätte sie den Blick sehen, den Kuß fühlen können, wer weiß, ob nicht der Nebel, der ihre Sinne umfangen hielt, weniger dicht und schwer gewesen wäre.
Jetzt kehrte der Doktor in das Boudoir zurück, verschloß die Türen und nahm die Rolle in die Hand. Einen Augenblick zauderte er noch. Es widerstand ihm, sich in die innersten Geheimnisse einer andern Seele zu drängen. Aber der Gedanke an den Zweck, den er verfolgte, gab ihm die nötige Entschlossenheit. Er streifte das Band ab, glättete die Bogen und warf einen Blick hinein. Großer Gott! Das waren nicht die Schriftzüge eines Mannes; das war auch keine Handschrift, wie man sie bei einem Mädchen aus Mildred Farleys Stande erwartet. Es war ja – Er rang nach Atem, schaute sich um in dem bekannten Gemach, ob er auch bei Verstande sei, und blickte dann wieder in die Blätter. Kein Zweifel – es war die Schrift seiner Frau oder doch derselben so ähnlich, daß – Er sprang auf, holte die kurzen Briefchen herbei, die er während der Verlobungszeit von ihr erhalten, und verglich sie mit den Zeilen, die vor ihm lagen. Dieselben Buchstaben. Nur Genofevas Hand konnte die Worte geschrieben haben, die er jetzt lesen sollte.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Unterdessen ging Gryce ebenfalls auf Entdeckungen aus, jedoch auf einem andern Felde. Frau Kamerons wiederholte Ausflüchte und die erschütternde Wirkung des Verhörs hatten ihn zu der Ueberzeugung geführt, daß damals in Genofeva Gretorex' Zimmer ein Mord begangen worden sei. Ihm lag es daher ob, zu erforschen, was jenes verwöhnte Kind des Reichtums bewogen haben konnte, der armen Näherin nach dem Leben zu trachten, während Kameron damit beschäftigt war, nach den Gründen zu suchen, die Mildred Farley zur Verzweiflung und in den Tod getrieben hatten.
Mit gewohnter Tatkraft und Genauigkeit ging der Detektiv ans Werk. Auch ihm war ein Umstand erinnerlich, den er bisher niemand mitgeteilt hatte: die offenbare Gemütsbewegung nämlich, in welche Frau Gretorex bei der Nachricht geraten war, daß ihre Tochter mit einem Mädchen Namens Farley in Verkehr stehe.
Der Name mußte in ihrer Brust eine geheim gehaltene Erinnerung erweckt haben, von welcher ihre Tochter nichts erfahren sollte. Mochte das Geheimnis Ehre oder Schande, Glück oder Unglück bedeuten, jedenfalls mußte Gryce es sich zu eigen machen. Mit solchen alten Familiengeheimnissen stehen oft die Verbrechen der Gegenwart in Zusammenhang, wie Ringe, die eine verrostete Kette bilden.
Bei der seltsamen Ähnlichkeit der beiden Mädchen hatte Gryce angenommen, es werde sich eine Blutsverwandtschaft nachweisen lassen; dies war jedoch nicht der Fall; denn unter den armen
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