Hinter verschlossenen Türen
noch auf andere, weniger verständliche Andeutungen. Sie wiesen auf ein großes Opfer hin, das die junge Witwe gebracht hatte, und er sah sich außer stande, sie zu enträtseln.
Erst als er in einem viel späteren Briefe die Worte las: »Ich hoffe, es geht Deiner süßen kleinen Mildred gut; ob wohl die andere ebenso blühen und gedeihen mag, wie sie?« – da ging ihm auf einmal ein Licht auf über die anscheinend höchst einfache Geschichte; er glaubte den Faden gefunden zu haben, der ihn aus dem Labyrinth führen sollte. Mit erneuter Aufmerksamkeit wandte er sich den übrigen Briefen zu, doch stieß er nur hier und da auf ein Wort des Mitgefühls und der Befriedigung darüber, »daß Frau Farley die Hälfte ihrer Last andern Händen übergeben habe, um den Rest leichter tragen zu können.« Die volle Bestätigung seiner Vermutung brachte ihm erst der Anfang eines Briefes aus Neuyork, welcher lautete: »Denke Dir nur, ich habe sie gesehen. Sie und Mildred gleichen einander so sehr, wie das bei zwei Kindern möglich ist, von denen das eine im Luxus aufwächst und das andere oft kein zweites Paar Schuhe zum Wechseln hat. Ich traf sie auf dem Schulweg, sie kam ganz dicht an mir vorbei; ich hätte sie in die Arme schließen mögen. Warum ich es nicht tat? Daß sie geglaubt hätte, ich sei nicht bei Verstande, würde mir weniger ausgemacht haben, als sie so unbeachtet an mir vorübergehen zu lassen, –das süße Geschöpf, das doch zu mir gehörte. Aber ihr prächtiges Kleid und die hochmütige Miene, mit der sie um sich blickte, flößten mir solche Scheu ein, daß ich ihr nicht einmal die Straße hinunter folgte, und doch zog mich mein ganzes Herz zu ihr hin, als wäre es mein eigenes Kind. Wie magst Du erst um sie trauern und Dich nach ihr sehnen. Erst jetzt begreife ich Deinen ganzen Schmerz, nun ich mit eigenen Augen dies Abbild Deines Lieblings gesehen habe, der Dir allein noch zu Trost und Freude geblieben ist.«
Dieser gleichfalls von »Anna« geschriebene Brief datierte nur zehn Jahre zurück. Von da ab trugen die Briefe eine andere Adresse, was den Detektiv nicht sonderlich überraschte. Sie wanderten nicht mehr nach der kleinen Stadt in Ohio, sondern in ein gewisses Haus der Bleeckerstraße in Neuyork. Die Witwe war mit ihrer Tochter nach der Weltstadt übergesiedelt. In den späteren Briefen war nun häufig von einem schweren Kampf in ihrem Innern die Rede, welcher im Verein mit dem Ringen um das tägliche Brot ihre ohnehin schwache Gesundheit mehr und mehr untergraben müsse.
Endlich war nur noch ihr leidender Zustand erwähnt, und die Worte der Hoffnung verstummten allmählich. Doch ward die Dulderin glücklich gepriesen, daß sie bei aller Schwachheit die Kraft gefunden habe, ihren feierlichen Eid nicht zu brechen. Auch der Tochter ward häufig gedacht, die sich ihr als treue Hilfe und Stütze erweise und ihr Ersatz gewähre für alles, was sie verloren.
Nun schrieb »Anna« nicht mehr; es folgten einige kurze Zeilen von einer ihrer Angehörigen: Erkundigungen nach Frau Farleys Gesundheit und Nachrichten über das Befinden der »teuern Kranken«, mit welcher Anna gemeint war. Von der Hand der letzteren lag nur noch ein kleiner Zettel bei, mit der Ermahnung: »Sei auf Deiner Hut. Mildreds Glück sowohl als das der andern hängt davonab, daß die Dinge bleiben wie sie sind. Gedenke Deines Eides.«
Damit war das Paket zu Ende. Aber Gryce hatte viel daraus erfahren und brauchte die sichere Fährte nur weiter zu verfolgen.
Er prägte sich das Datum, an dem Mildred zuerst erwähnt wurde und den Namen der Stadt, aus welcher die Briefe der teilnehmenden Anna kamen, ein und verließ mit befriedigtem Gefühl Frau Olneys Wohnung. Freilich gesellte sich dazu in seinem wohlwollenden Gemüt auch die geheime Furcht, daß er einem Verbrechen auf die Spur gekommen sei, welches über ein schönes Weib und ihren edlen Gatten Schmach und Schande bringen könne.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Die Zusammenkunft, welche kurze Zeit darauf zwischen Kameron und Gryce im Hauptquartier der Polizei stattfand, war seltsamer Art. Beide hatten einander wichtige Mitteilungen zu machen, aber jeder wartete, daß der andere beginnen solle und suchte seine Ungeduld sorgfältig zu verbergen. Endlich nahm Gryce das Wort:
Ich habe eine überraschende Tatsache in Erfahrung gebracht und halte es für meine Pflicht, Sie davon zu unterrichten, auf die Gefahr hin, Ihren Stolz zu verletzen und Ihnen Kummer zu bereiten.
Mein Stolz, versetzte
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