Hinter verschlossenen Türen
Bewußtsein zurückkehrte, welch ein schreckliches Erwachen! – Kameron bezwang sich und sagte nicht ohne Bitterkeit:
Demnach waren es Schwestern.
Jawohl, Zwillingsschwestern.
Es entstand eine Pause, bis Kameron murmelte:
Erzählen Sie nur weiter, ich kann mir denken, was nun folgte.
Das liegt freilich auf der Hand. Beim Anblick des übergroßen Segens, der für die arme Mutter eine so schwere Last war, fühlte sich die kinderlose Frau Gretorex plötzlich von heftiger Sehnsucht ergriffen. Bald die beiden gesunden, hübschen und vielversprechenden Kleinen anschauend, bald die bleiche Mutter, rief sie unwillkürlich aus: Was würde ich nicht darum geben, wenn eins von euch mir gehörte! Da erhellte ein Hoffnungsstrahl das Antlitz der schwachen, fast verzweifelnden Frau. Sie hob den Blick zu ihrer Verwandten empor, die ihr beistimmend zunickte, dann sah sie wieder fragend den Doktor an. Frau Gretorexist eine vermögliche Dame, erklärte dieser; wenn sie sich einer dieser kleinen vaterlosen Waisen annehmen will, so ist Ihr Kind wohl versorgt. Das arme Weib faltete die Hände: Ist es Ihr Ernst? rief sie. Wollen Sie – wünschen Sie – Ich will mich mit meinem Mann besprechen, war die Antwort der Dame, kleiden Sie die Kinder an, in einer Stunde komme ich wieder. – Sie kam und fand die Neugeborenen nebeneinander auf dem Bett der Mutter liegen. Die Dame betrachtete das reizende Bild mit Wohlgefallen; ihr Entschluß schien gefaßt. Ich will eine der Kleinen mitnehmen und als mein eigenes Kind erziehen, ihr meinen Namen geben, sie dereinst vielleicht zur Erbin meines Vermögens machen, aber nur unter der Bedingung, daß Sie alle Ihre Rechte aufgeben und an mich abtreten. Sie dürfen sich nicht weiter um ihr Schicksal kümmern, noch sich in ihre Angelegenheiten mischen. Mir, und mir allein muß sie angehören. Wollen Sie mir geloben, weder durch Wort noch Tat dem Kind oder sonst jemand gegenüber zu verraten, daß ich nicht seine Mutter bin? Sie müssen es mir feierlich schwören auf das Bibelbuch. Das arme von Schmerzen erschöpfte Weib stöhnte laut auf und drehte das Gesicht nach der Wand; ihre Finger tasteten jedoch krampfhaft nach der Bibel auf einem Bücherbrett neben dem Lager. Die Verwandte, Anna mit Namen, welche zugleich ihre Ratgeberin zu sein schien, legte ihr das heilige Buch in die zitternde Hand, die Frau küßte es und auch Anna leistete auf Verlangen der Dame den geforderten Eid. Nur der Arzt, der aus Neugier im Zimmer zurückgeblieben war, verweigerte den feierlichen Schwur, doch versprach auch er den Vorgang geheim zu halten. Nun ward zur Wahl des Kindes geschritten. Wie die Kleinen so nebeneinander lagen, konnte kein menschliches Auge den geringsten Unterschied zwischen ihnen entdecken; aber die Dame griff ohne Besinnen über das ihrzunächst liegende Kind hinweg nach dem zweiten, wahrscheinlich weil sie glaubte, man habe das andere für sie bestimmt. Die kleine, ungewohnte Last an sich drückend verließ sie eilig das Zimmer; nur die leichte Einbuchtung im Kissen blieb als einzige Spur von dem verschwundenen Mägdlein zurück.
Ein tiefer Seufzer Kamerons unterbrach den Erzähler. Alle Zärtlichkeit für sein Weib, dessen Kinderköpfchen dort auf dem Kissen geruht hatte, schien ihm zum Herzen zu strömen; fast vergaß er darüber die traurige Wirklichkeit.
So wurden die Schwestern voneinander getrennt, fuhr Gryce fort. Schon am nächsten Morgen verließ das Ehepaar Gretorex mit der Dienerin, die sie bei sich hatten, und dem Kinde die kleine Stadt. Frau Farley, durch ihre Armut im Westen zurückgehalten, erfuhr zehn Jahre lang nichts von der Tochter, welche sie weggegeben hatte. Dann aber ward durch ein unbedachtes Wort jener Verwandten die schlummernde Mutterliebe aufs neue in ihr erweckt. Ohne die Folgen zu bedenken, nur dem Verlangen ihres Herzens nachgebend, siedelte sie mit ihrer kleinen Mildred nach Neuyork über. Sie mietete sich in der Bleeckerstraße ein, den alten Kampf ums Dasein fortsetzend, aber unter weit ungünstigeren Bedingungen. In der früheren Heimat hatte man sie geschätzt und wegen ihres Unglücks bedauert; hier war sie allen Menschen fremd. Allein das Bewußtsein, sich in der Nähe des Kindes zu befinden, von welchem sie sich einst getrennt hatte, half ihr über alle Entbehrungen hinweg. Es ward ihr auch leichter, für die Erziehung der kleinen Mildred zu sorgen, die schon früh gute Geistesgaben zeigte und mit der Zeit ihr Trost und ihre Stütze zu werden versprach. Wann
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