Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
Vater ihrer Brieffreundin im vorbeifahrenden Bus, der Kellner kam für eine Zigarettenlänge
     hinaus. Er hatte eine Hundeleine wie einen Schultertaschenriemen über die Brust gehängt, eine Leine ohne Hund, ein Riemen
     ohne Tasche, sie schob es auf seine Sektbeschwipstheit, daß er zu niemand Bestimmtem sprach, draußen fast schon Frost, sagte
     er leise, ich erfriere mich so. Kein gutes Wetter für Romanzen, sie gab ihm recht, die nassen Mäntel und Jacken und Kapuzenpullover
     der Gäste im Café rochen schlecht, und wegen der lauten Musik beugten sich die Jungen vor, um die Worte der Mädchen zu verstehen.
     Ein einzelner nur, der sich nicht für die Gerade als die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten entschieden hatte – was
     hätte Aneschka ihm oder ihr nicht alles entlocken können, wäre sie auf seine oder ihre Bemerkung eingegangen: Tööö hieß er,
     ja, solange dieser fremde Geschlechtsteil an ihm hing, war er, trotz der großen Wünsche, ein Mann, Tööö, T wie Theodor und
     drei kleine Nullen mit Umlaut, aus diesen Buchstaben bestand sein Name, er zog ihn bei jeder neuen Vorstellung in die Länge,
     und viele, die ihn länger kannten, hielten ihn deshalb für einen affektierten Transvestiten, dem man am liebsten aus dem Wege
     ging. Vielleicht hätte er Aneschka von seiner Frauwerdung erzählt, doch ihm war längst die Lust vergangen, sein Geheimnis
     mit wildfremden Frauen zu teilen; vielleicht hätten sie auch nur schweigendnebeneinandergestanden und auf die Glut ihrer Zigarette gestarrt, doch in diesem Augenblick stürzte Ferda ins Freie, er umlief
     Aneschka in einem kleinen Bogen, überquerte die Straße, winkte ihr von der anderen Straßenseite kurz zu und schritt in drei
     Richtungen, bis er endlich eine Verbindung hatte, trotzdem mußte er das Mobiltelefon hart ans Ohr pressen. Seine Mutter klagte
     über den heutigen Tag, an dem viele Unglücke passiert waren, sie war zum Telefonieren in die renovierte kühle Garage hinabgestiegen,
     und weil sie durch das Fenster hinausschaute, hinaus auf den schmalen Streifen Land an der Kante des Hügels, konnte sie sich
     nicht fortbewegen, und sie bewegte sich nicht vom Fleck, da ihr Mann mit dem Gartenschlauchende in der Hand zwischen die Büsche
     stapfte, man hatte dort immer wieder eingerollte Schlangen gesehen, wahrscheinlich war es dieselbe Schlange, von der es hieß,
     sie würde über ihre Brut wachen und jede fremde Ferse beißen, die ihr zu nahe kam. Heute rechnete Ferdas Mutter mit einer
     schlimmen Sache, die anderthalb Meter hohe antike Vase war um genau sechs Uhr siebenundzwanzig in zwei ungleiche Hälften zerbrochen,
     früh am Morgen war ihr Mann dagegengelaufen, auf dem Weg vom Bad zur Küche, ihr geliebter Mann, der mit Mitte Siebzig die
     Blicke der breithüftigen Damen auf sich zog, sie hatte ihn doch öfters gemahnt, in den frühen Stunden vorsichtig einen Schritt
     vor den anderen zu setzen. Mit einem Ruck setzte er sich morgens auf, mit einem Ruck schlüpfte er in die Pantoffeln, mit einem
     Ruck stieß er sich von der Bettkante hoch, und dann kannte er kein Halten mehr. Mehrmals war es geschehen, daß er sie, die
     im leichten Schlaf Dahintreibende, an der Schulter berührt hatte, um sie zu wecken und für den Morgentau auf den Blättern
     zu begeistern, doch nein, diesmal war sie selber wach geworden, und sie sah hin, und sie sah ihren Mann vor den ungleichen
     Hälften der Vase knien. Wieder ein Stück alte Zeit zerfallen, wer hatte wohl diese Vase im Schaufenster eines Porzellanladensentdeckt, sie in mehrere Schichten Papier einwickeln lassen und heimgetragen, wer hatte wohl durch den engen Hals dieser
     Vase eine Tulpe zwei Tulpen drei Tulpen gesteckt und die abgefallenen Tulpenblätter neben der Vase auf dem Boden betrachtet,
     so lange, bis es Zeit wurde, die Blätter ins Kehrblech zu fegen. Eine feine Dame mußte es gewesen sein, eine von den feinen
     Damen, die man auf den Schwarzweißfotos mit den gezackten Rändern sah, eine junge Frau in einem Tüllrock, und wer sich damals
     in sie verliebte, verfluchte die unanstößigen Liebesgedanken, die sie wachrief, wenn sie an der Seite ihres Verlobten über
     den über Nacht festgestampften Kies des Gehwegs ging, die Vase dieser feinen Dame war zerbrochen.
    Ferdas Mutter legte eine Pause ein, ihr Mann rief ihr zu, daß er jetzt mit zwei ungebissenen gesunden Fersen aus dem Gebüsch
     treten würde, keine Schlange, kein Skorpion, nur die Nachbarn, die ihre

Weitere Kostenlose Bücher