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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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beschreien fleißige
     Friesen, ein Gedanke ohne Sinn. (Cora wurde zum Gespenst ihrer selbst in diesem Augenblick. Sie wurde unempfänglich. Ihre
     heile Hälfte und ihre beschädigte Hälfte wurden ein Körper, und der Körper wurde taub. Der Schnitt, der durch siehindurchging, verschwand, und sie fühlte sich als eine Erscheinung, die sie beschaute. Es geschah, und nach einigen Sekunden
     verstrich die Seelentümlichkeit. Ihr Herz klopfte und klopfte, doch dann sog sie die herrliche Inselluft ein, und sie hörte
     auf, ein Gespenst zu sein.)
    Ocker? Nein, Ocke, sagte Frerk, ein Mann mit eigentümlichen Ansichten über die Mode, wie auch immer, er hat mir verraten,
     daß man zum anderen Ende Föhrs fahren muß, zum Schöpfwerk Föhr-West, etwas weiter nördlich, in Dunsum, geht man los, der Wattenweg
     nach Amrum führt an Pricken vorbei, an den im Meeresboden festgepflockten dünnen Stämmen, sechs Kilometer wandern, und mit
     der Fähre wieder zurück … Er plapperte alles nach, was ihm der Friese erzählt hatte, die Nummer des Wattführers, den der Mann
     kannte, war leicht zu merken, also rief er ihn über das Mobiltelefon an – und erfuhr, daß alle Wattwanderungen abgeblasen
     waren, weil der Westwind trotz der Ebbe das Wasser zurückwehte. Sie gingen zum Friesischen Museum und traten durch das Walkiefertor
     ein, vielmehr trat Cora ein, Frerk aber kniete sich plötzlich hin und starrte das Gelenkende eines Kiefers an, und als Cora
     neben ihm kniete, entdeckte sie ein Zeichen aus Kerben, zwei durchgestrichene Längskerben mit abgeknicktem Stiel. Was auch
     immer Frerk berührte, er behielt es für sich, sie schritten das Außengelände ab, sie eilten erst an einer Scheune vorbei,
     von der es hieß, daß in ihr Korn gedroschen wurde früher, dann standen sie kurz an einer Bockwindmühle, die man in den Wind
     drehen mußte, damit der Wind die Flügel erfaßte, und dann sahen sie ein Haus, das als das älteste Haus Föhrs ausgewiesen war.
     Am Haupthaus sahen sie eine junge Frau in Festtracht; enge Ärmel, schwarzes Leibchen, weiße Schürze, die auf den Schuhen auflag,
     an der Kopfhaube schwarze Glasperlen, an der Brust eine Hakenkette. Ocke sprach mit ihr, mittlerweile hatte er die Jackettärmel
     heruntergekrempelt, er machte Anstalten, zur Brosche amSchürzenband zu greifen, doch die Frau schlug ihm hart auf die Hand, und weil es ihm nicht gelang, diese peinliche Szene
     mit einem Scherz zu überspielen, fing er an, ›über die lumpige Zeremonie‹ zu lästern, festlich gekleidete Männer und Frauen
     bildeten am Eingang des Museums Gruppen, sie wurden auf den Ruhestörer aufmerksam und gingen auf Abstand.
    Ocke zeigte plötzlich hoch zu einer mit einer Filzdecke verhüllten Figur in einer Nische, ein Imitat, schrie er, überall nur
     Imitate, Aufziehmöwen am Himmel, Plastikflaschen im Sand – wie lange ist es her, daß wir eine Wasserleiche aus dem Meer zogen?
     Ihr gebt doch nur mit altem Kram an, die Herrlichkeit ist vergangen! Verbiestert seid ihr alle, tot und leer, man hat uns
     gekauft, und jetzt stellen wir Kopien aus. Wer Friese ist, muß doch vor Trauer verrecken! … Sein Geschrei provozierte Gegengeschrei,
     nun war es an der Frau in Festtracht, ihm vorzuhalten, daß er in den Tagen, da er durch die Straßen Wyks geschlendert war,
     vor Langeweile verging, jedenfalls hatte er das behauptet, und eine Amtsperson mit lockerem Krawattenknoten sprach von dem
     Mann als einem kurzhaarigen Anarchisten, auf den der Himmel alles Wasser der Wolken niederregnen lassen sollte, die Verwünschungen
     nahmen kein Ende, auch nachdem Ocke zum Zeichen seiner Entspannung die Ärmel wieder hochkrempelte. Cora fand es seltsam, daß
     zum Beginn des Festakts, pünktlich auf die Minute, alle Anwesenden den Streit vergaßen, der Redner sprach von der spanischen
     Bark ›Ulpiano‹, die achtzehnsiebzig bei der Hallig Süderoog gestrandet wäre, um Weihnachten herum, die Einwohner hätten die
     Überlebenden aufgenommen, und der Kapitän hätte sogar ein Schreiben geschickt als Dank für die herzliche Aufnahme …
    Was ist eine Bark? sagte Cora, und jemand hinter ihrem Rücken, nah bei ihr, flüsterte: ein mehrmastiges Frachtschiff. Ocke
     entfernte sich. Eine Amtsperson zog am Seil, die Filzdecke fiel herab und enthüllte eine prächtig glänzendeGalionsfigur, weil das Original vom Tropfwasser vom Reetdach angegriffen war, hing es im Museum. Cora und Frerk drehten sich
     um, Ocke schrie vom Waltor aus hämische

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