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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Hurrarufe hin, soll Gott das Falsche schützen und das Echte verstecken? schrie er,
     der Herr soll euch falsche Friesen in Taufbecken ertränken! Ihr beschlagt die Opferstöcke mit zierlichen Eisenbändern, einst
     gab der Dorfschmied dem Eisen Gestalt, jetzt sind’s die Gecken, die Trauringe schmelzen. Der Beschlag an den Gruftportalen:
     Spiralen, Farnwedel, Firlefanz, in der Affenkunst habt ihr’s weit gebracht …
    Und da setzten sich die kräftigsten Männer in Bewegung, sie wollten das Bähschaf, als das Ocke Volkerts vor Gott und dem Wyker
     Volk ausgewiesen war, in Haft nehmen und ihm das Maul schleifen, daß ihm der Unsinn aus seinem dummen Schädel schwitzte. Eine
     große Lust überkam sie, diesen Polyesterjoppenträger zu jagen, und weil Ocke diese Lust roch, weil er den Anfangsbuchstaben
     seines Nachnamens, das F, durch ein V ersetzt hatte, aus Liebe zum Deutschen, ohne vom Ahnensinn abzugehen … und vornehmlich
     deshalb, weil alle Männer seiner Ahnenreihe schnelle Läufer waren, lief er ihnen vor der Nase davon, sie hatten schon die
     Hände nach ihm ausgestreckt und verharrten jetzt zwischen den beiden großen Walknochen, und genau darüber sprach Cora eine
     halbe Stunde später, sie saßen im Strandcafé am Tisch neben der großen aufgeklappten Doppeltafel, der Wirt hatte gerade eben
     in Schönschrift ›Spezielles mit Schuss‹ geschrieben, ganz oben, und darunter die Angebote aufgelistet: Föhrer Hasentraum (Toffeelikör).
     Italienische Tante (Amaretto). Tote Tante (Rum). Eisige Johanna (kaltes Getränk an heißen Tagen).
    Man blieb beschäftigt auf der Insel, Wind und Wetter griffen die Dinge an, und man mußte aufräumen – oder eben die schwarzen
     Tafeln neu beschriften. Hör auf zu träumen, rief Cora, und Frerk wandte sich wieder ihr zu, er setzte sichaufrecht, er hatte sich, ohne es zu wollen, gegen die große Speisetafel gelehnt, er hörte sie sagen, daß die beiden Häscher
     zwischen den Kieferknochen sie an etwas erinnert hätten, das schon lange zurücklag, an ihre beiden Brüder, wie sie nebeneinander
     durch die Zaunpforte schritten, ihr Vater hatte tatsächlich den Eingang von der Straße in den Garten überdacht: Man trat nicht
     ein, man ging durch die Pforte. Frerk kniff ein Auge zu und hielt zwei abgewinkelte Finger vor das geöffnete Auge, und er
     freute sich, es paßten tatsächlich nur zwei Finger zwischen Horizont und ausgefransten Wolkensaum. Dunkel wurde der weite
     Himmel. Dunkel also der Himmel, ein dunkler Vorhang über dem Land dort drüben, war es Dagebüll, es ging Regen nieder, die
     Windräder wie die Stelzen eines Riesen, alles im Dunst, ein dunkler Himmel, auch über Föhr trübte es sich ein, würde es auch
     auf ihrer Insel regnen? Am Loch des umgedrehten Terrakottatopfes streifte er die Asche seiner Zigarette ab, in seiner Berliner
     Kneipe legte man bei starkem Wind eine nasse Serviette in den Aschenbecher. Er hätte nicht bei ihr einbrechen dürfen. Wie
     als könnte man sich in die Nacht verschauen, wenn man nur lang genug hinausstarrte, er konnte dieses schöne Gefühl fast auskosten,
     doch dann schwand die Stille, und Cora fragte ihn wieder, ob er nun endlich das Träumen lassen könnte. Und er hörte auf zu
     träumen.
    Später in der Nacht sollte er sich über den großen hellen Stern wundern, sonst sah er ziehende Wolken vor unverschliertem
     Nachthimmel, die Leuchtkörper verwirrten ihn, das rote Blinklicht des Leuchtturms weit draußen, ein dahinfliegendes Flugzeug,
     und die Lichter, die das Festland säumten. Er war unwillig, sich schlafen zu legen, er tat es trotzdem, im Schlafzimmer knarrte
     das Bettgestell, und er stellte sich vor, wie sie auf der Bettkante saß, das abgeschminkte Gesicht von der Nachtcreme noch
     glänzend, wie hatte sie sich doch über die verrosteten Kronkorken gefreut, die sie im Treibselam Strand fand; was hatte es ihn für Überwindung gekostet, nicht ihr schönes Gesicht zu streicheln und in ihr Ohr zu flüstern,
     daß er an Zufälle glaubte und daß, wenn sich die Zufälle häuften und ein Mann und eine Frau in ebendiese Zufälle gerieten,
     sie zu überragenden Athleten der Zuneigung wurden. Kurz vor dem ersten Schritt hatte er aufgegeben – so kam es ihm vor: Er
     gab auf und zwang sich, an etwas anderes zu denken als an ihre Beine in Netzstrumpfhosen.
    Und jetzt? Jetzt nahm sie auf einem Stuhl Platz, sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf, sie war in diesem Augenblick
     auch kurz davor, aufzugeben,

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