Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
schweigend da, und die pneumatische Tür öffnete und schloß sich immer wieder, und sie sagte: Nicht alles, was Sie sehen, ist
     bis zum Boden Sauerrahm – ein ungarisches Sprichwort, ich habe es etwas abgewandelt … An der Straßenecke im Dunkeln knackten
     die jungen Zigeunermänner mit den Fingern, sie wandte sich von dem Deutschen ab, der über ihr Geraune nachdachte, ihr Halbbruder
     gab ihm einen Klaps auf den Oberarm und folgte ihr.
    Ferda setzte sich auf den Kantstein des Bürgersteigs gegenüber und starrte auf seine zerfaserten Schnürsenkel, es kam ihm
     richtig vor, daß sein Mobiltelefon in diesem Augenblickläutete, sie fragte ihn nach den Polizeisirenen, und er erklärte ihr, daß die Straßen nachts von Verrückten Entrückten vom
     Vertrauten Weggerückten bevölkert wurden, er bat sie, die Verbindung nicht zu kappen, und las die soeben eingetroffene Mitteilung
     durch, und auf ihre Nachfrage hin las er ihr die Zeilen vor, die seine Tante ihm geschrieben hatte: Wieso besuchst du nicht
     das Grab deiner Großmutter? Wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren? Alle Schande der Welt will sie auf dich abwälzen,
     sagte Aneschka, sie tut so, als würdest du dich in einer Schlammgrube wälzen. Apropos. Der Regen hat unseren Garten in einen
     Schlammboden verwandelt. Ich bin wieder in Prag. Ich träume viel zuviel, das möchte ich nicht. Wie geht es dir? … Viel zu
     fremde Stadt. Viel zu fremde Sprache. Vorhin war ich auf einem Zigeunerkonzert, und es gab für wenig Geld Stampfkartoffeln,
     sie heißen hier törtkrumpli, ich habe aber nicht davon probiert, wegen des Fetts und der gedünsteten Zwiebeln … Bleibst du
     noch lange dort? Weiß ich nicht, sagte er und zog die Schnürsenkel aus seinen Schuhen, er warf sie weg und erzählte von den
     langen Wegen, die er ging, um auf die Dinge zu stoßen, die er nicht verstand, und da ein Straßenkehrwagen in die Seitenstraße
     einbog und die Kehrbesen ausfuhr, floh er in die nächste Seitenstraße und starrte auf die Auslagen eines Spezialgeschäfts
     für handgefertigte Damenhandschuhe, und er fragte Aneschka, ob es in Prag so kalt war, daß man Handschuhe tragen könnte, sie
     sagte, er sollte ihr keine Geschenke machen, und legte auf.

[ Menü ]
     
    Ein Hexenschuß, eine Verkühlung, eine ungute Vorahnung – für Männer seines Schlages und seines Alters waren das Gründe, nicht
     aus dem Haus zu gehen. An anderen Tagen hätte er sich eine Wolldecke auf die Knie gelegt, das Kristallglasmit Wein gefüllt und sich gefreut über den Regen, der auf die Blätter fiel, er wäre zwischendurch aufgestanden, um sich die
     Beine zu vertreten oder eine zweite Decke zu holen, sie zu wringen und um den Hals zu schlingen. Doch heute nacht ließ er
     sich naßregnen, er ging zu Fuß den langen Weg, es wäre ihm feige vorgekommen, ein Taxi zu bestellen, es wäre unangebracht
     gewesen, einen Regenschirm über seinen Kopf zu spannen, seine rechte Niere schmerzte bei fast jedem Schritt, und er dachte:
     Eine Niere gegen ein sauberes Vaterland, die zweite für ein bißchen mehr Liebe, die mir die Touristinnen gelegentlich schenken.
     Seit dem Überfall zog er den Fuß nach, es war nur eine Vorsichtsmaßnahme, um Angreifer auf Lauer gütig zu stimmen, er fühlte
     nicht den leisesten Lufthauch in seiner Seele, diese wie Tausende andere Wahrheiten hatte er dem Adjutanten gegenüber verschwiegen:
     Das Gesicht war ein Holzschnitt, dahinter verbarg sich eine über Muskeln straff gestraffte Haut, und die Stirn schirmte den
     königlichen Sitz gegen jeden bösen Einfluß ab. Diesem einfachen Glauben hing er an, und wer ihn fragte, wer denn auf dem von
     Knochen umwölbten Thron säße, den beschied er mit einem Lächeln – diesen Königsthron hatte nicht der Gläserzerschmeißer noch
     das Zigeunerliebchen bestiegen. (Arad stand völlig zu Recht in dem Ruf, Unbeschwertheit vorzugaukeln. Sein silbernes Pillendöschen
     war immer halb gefüllt, dabei sagte ihm sogar sein Hausarzt das Gemüt eines Schlächterhunds nach. Die Touristinnen, die ihn
     ob seiner einstudierten Gemütserregung abwiesen, bedrohte er, er drohte ihnen, er würde jeden Sonnenschein und jedes Mondlicht
     wegzaubern. Er vergab keine Ablehnung. Vom königlichen Sitz in seinem Kopf hatte er oft gesprochen, die fremden Frauen aber
     durchschauten ihn als einen Bauern in Bürgertracht.)
    Einem Hinkenden tut man in dieser Stadt tatsächlich keinen Harm an, und deshalb gelangte Arad unversehrt und trotz

Weitere Kostenlose Bücher