Hinterland
nicht die Nachbarsfrauen
befragen, sie kannte mein Inwendiges gut genug, um genau zu wissen, wonach es mich verlangte: nach der Vergessenheit …
Was machte mich vergessen? Ein Herzmedikament? Das Töpfchen mit Hirsebrei, das ich wie im Märchen leer aß, dann fiele ich
in einen Schlaf, und ich wäre vergiftet, ich wäre vergangen. Ich wachte auf und sähe Nebelschleier. Kein Tageslicht, nur blauer
Schein.
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Es ging wie im Märchen zu, die wenigsten erkannten dies: Die Frau, die vom Wilden verunglimpft wurde, war zwar nicht zaubermächtig,
aber wann immer sie an ihren juckenden Ellbogen kratzte, glaubte man, sie riebe einen Fluch herbei – ein kindischer Glaube.
Einmal hatte sie sich in einen Mann verliebt, der Mann hatte nicht viel Zeit darauf verwandt, sie zu erkennen, viel lieber
ging er Dungpilze suchen, am Waldrand, an einerBöschungskante, auf der Wiese, sie wuchsen in der Nähe von gedüngten Feldern, und er zeigte ihr die Pilze in der durchsichtigen
Lebensmitteltüte, geschuppte weiße Kegelhauben, die bis zur Stengelwurzel reichten, aus Dung geschaffenes Tierfutter. Er schnitt
sie in dünne längliche Scheiben und gab sie einer brodelnden Brühe bei. Verstrickt in die Liebe zu diesem Mann begann sie,
alles andere als trügerisch, als Trugbild, anzusehen: Wenn sie ihn besuchte, legte sie heimlich einzelne blonde Haare aus,
sie hoffte auf einen Betrugsverdacht, der sich in den Frauen festsetzen würde. Den Frauen, die die gewachsten Limetten und
Zitronen unter dem heißen Wasser abbürsteten, um sie mit Ingwer zur Marmelade zu verkochen. Die den zerkochten Rhabarber durch
ein dünnes nasses Tuch seihten, weil dieser Mann, weil dieser Mann Erdbeer-Rhabarber-Gelee über alles liebte. Weil dieser
Mann – diese drei Worte sprachen die verliebten Frauen, sie konnte es ihnen nicht verargen, auch sie dachte viele Male am
Tage: Weil es ihm gefällt.
Gefiel es ihr, sich ziellos herumtreiben zu lassen, in der Zeit zwischen zwei Besuchen, hatte sie ein großes Vergnügen daran,
die Ellbogen zu kratzen, vor den Augen wildfremder Menschen im Bus, im Zug und an anderen Plätzen? Sie verlor ihn an einem
Mittwoch, da er ihr zur verabredeten Stunde die Tür nicht aufschloß, sie hatte ihre Haare aus der Bürste umsonst gerupft und
auf Kissen, den Teppich, die Tagesdecke ausgelegt. Sogar um die abstehenden Nägel der Dielenzierleiste hatte sie die Haare
gewickelt. Der Stabparkettboden aus Achateiche war im Fischgrätmuster verlegt, das habe ich mit Hammer und Schlagklotz selbst
getan, sagte er, und sein erbärmlicher Stolz hinderte sie nicht daran, blonde Haare in den Dielenritzen zu verstecken. Alles
umsonst.
Er streute das Gerücht, man müßte sich vor ihr in acht nehmen, sie wäre in Liebesdingen zum Schlechten verwandlungsfähig,
und ehe sie sich versah, galt sie für viele, sogarfür die Herumtreiber auf den Straßen, als Hexe. Die Gerüchte: Das Zauberweib verdrillte seinen Gürtel, wie man nasse Wäsche
wrang, versteckte ihn unter einem Plastikbottich neben einer Parkbank, klebte ihn unter einem Kneipentisch fest oder warf
ihn hoch, daß der Gürtel an einem kahlen Ast hängenblieb. Die Verwünschung, die sie in den Lederriemen hineingezischt hatte,
sprang die Männer an oder infizierte sie wie eine Krankheit. Ihr Blick streifte den Wilden, er knickte mit dem Fuß seitlich
um, und seitdem glaubte der dumme Kerl, sie wäre in der bösen Kunst meisterhaft. Wenn die Männer Wind und Witterung ausgesetzt
waren, verwandelten sie sich aus eigener Kraft zu Veteranen alles verschlingender Dummheit, und man mußte sie nicht erst schütteln,
daß sie plauderten, und daß sie plauderten, kam ihr gelegen: Sie strich durch die Straßen, und man machte ihr Platz.
In einem zur Galerie umgebauten Werkhaus beschaute sie Holzpaletten, die man bis zur Hallendecke aufeinandergestapelt hatte,
und sie hörte eine Stimme nah an ihrem Ohr: Sind Sie diejenige, über die die Männer sich das Maul zerreißen? Wer sprach sie
an? Wie es sich bald herausstellte, war das eine Kneipenwirtin, der sie gefiel, weil sie allen bösen Gerüchten über sie Glauben
schenkte. Fallenstellen wäre ihre Nebenbeschäftigung, sagte sie ihr, Geschmeiß umschwirrte sie an manchen Sommertagen, aber
im Winter, in der Jahreszeit der verhüllten Geister, würde sie nicht bedroht, nicht angegriffen, sich freimachen.
Das alles klang nach Philosophie, nach der Wehmut einer Frau beim
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