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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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dann jeder Mann in ihrer Nähe ein Mann zuviel war. Sie versteckte sich nachts in der Kinderbetreuungsstätte, ihr Onkel
     gab ihr den Zweitschlüssel mit den Worten, sie möge keine Angst haben, wenn die wilden Katzen vom Hinterhof ihre Pfoten gegen
     die Fenster preßten, und natürlich, gleich in der ersten Nacht, steckte sie sich die Finger in die Ohren und sang gegen das
     Katzenpfotenklacken an, und als Tomás gegen das Glas klopfte, in der Hoffnung auf Einlaß und eine lange Umarmung, begann sie
     zu schreien, sie schrie ein amerikanisches Liebeslied, und es hörte sich an wie die Attackehymne eines Kammerjägers. Nach
     hundert Nächten waren sie geschieden, und etwas später wies man sie ein und nahm ihr das dünne Hemd weg, sie sollte sich nicht
     die Spaghettiträger abreißen, aneinanderknoten und um ihren Hals winden. Ihre Spur verlor sich, in Prag keine Seltenheit,
     nichts wird verschwendet, und jeder, dem es reicht, hat viele Möglichkeiten, aus dem Menschenstrom herauszutreten.
    Tomás saß auf Vilmas Schoß. Sie alle waren mit den Nerven am Ende: Ein wichtiger Theaterkritiker hatte einer Probe beiwohnen
     dürfen und mittendrin ›Ja, nein, ja, nein!‹ ausgerufen – was bedeutete das? Würde er den Regisseur erledigen, würde er ihn
     der Greueltaten am Original bezichtigen und ihn auf seine Liste der Trüben und Trägen setzen? Diese Liste, vom Kritiker dutzendfach
     fotokopiert und in allen Theaterkantinen dieser Stadt ausgelegt, erfuhr in den letzten Jahren kaum eine Änderung, nur zwei
     Namen wurden gestrichen: Eine Regisseurin ging nach Graz, ein Regisseur bekam nach zwei streng originaltreuen Inszenierungen
     einen großen Preis und durfte selbstverständlich nicht mehr angefeindet werden.
    Ja, nein, ja, nein! Sie sprachen darüber, später in Vilmas Wohnung, später in ihrem Bett, das Schauspiel war zu Ende, und
     das echte Leben begann mit dieser Nacht, sie liebten sich, und Vilma sagte: Wir sind den beiden Männern egal, wir spielen
     das Stück des einen Mannes, und der andere Mann wird uns bestimmt nicht trösten, weil wir tapfer unseren Text sprechen. Ja
     deshalb, weil er sich in Schauspielerinnen verliebt. Nein deshalb, weil er bislang keinen Erfolg hatte. (Darum ging es dem
     Kritiker keinesfalls. Er liebte Shakespeare und Molière, und er liebte die Körpersprache der Männer und Frauen, die in Rollen
     schlüpften, um zu gefallen. Er glaubte, in der Kunst hätte man sich ernsthaft zu verhalten. Also schwor er auf das Blendwerk
     – er benutzte das deutsche Wort dafür – und haßte die Albernen auf der Premierenfeier, die Erleichterung ob einer bestandenen
     Prüfung ließ er nicht gelten.) Ein merkwürdiger Mann und eine Zänkische, sie lagen beieinander, es war nicht immer vermeidbar,
     von der knackenden Heizung aufgestört zu werden, es war für sie nicht vertretbar, dem Kritiker keine bösen Motive zu unterstellen,
     aber Tomás lebte noch und dachte diese Worte: Alles am Brennen. Alles wird mir leichtgemacht, und Vilma dachte diese Worte:
     Er hatein schönes Ärschchen. Er soll bei mir bleiben, so lange wie es ihm möglich ist, so lange wie ich es ertrage. Himmel und
     Hölle: Eine Tat, ein Sprung, ein Herbstblatt Verzweiflung, ein Windstoß Stille, eine Handvoll Körner Zweifel.
    Und dann? Und dann hat es ein junger Mann getan, er ist in das nächste Leben hinübergesprungen, er hat eine jeden Laut und
     jeden Lärm verzehrende Lücke hinterlassen, einen grauen Platz, auf dem sich die Männer und Frauen drängeln, die ihn kannten
     und liebten und haßten, sie zweifeln das Privileg des Toten an, weggegangen zu sein, ohne zu bezahlen. Tomás gehörte keineswegs
     zu jenen Menschen, die nicht gegen ihre Vorsätze handelten, ihn trieb das Glück an wie fast alle Prager, die letzte Zerstörung
     lag lange zurück, und wenn man einen Mann sah, dessen Kopf unter einer hochgeklappten Motorhaube verschwand, dachte man einfach
     nur an eine Panne, und ganz sicher eilte zur Pannenhilfe ein Mechaniker der alten Schule, einer, der gelernt hatte, ohne teure
     Apparate auszukommen, und beim Anblick der beiden Männer erinnerte man sich an die Verwüstung der Körper und der Seelen. War
     es unpassend, große Dinge zu versuchen? Galt man als untüchtig, wenn man nicht weiterdachte als bis zur nächsten Straßenecke?
    In dieser Nacht kamen Vilma und Tomás überein, daß es weitere Nächte geben würde, sie würden ihr Liebesgeheimnis hüten, der
     moderne Extremist, wie sie den

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