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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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bald beißen, machte sie für einen Augenblick wütend. Doch dann rissen sie sich
     zusammen, jeder Verstoß gegen die gute Sitte würde die bebrillte Frau und die Männer mit den halben Krawatten nur in dem Glauben
     stärken, daß sie, die Vorort-Istanbuler, in Erdlöchern hausten. Die Brüder Konga und Asul saßen nebeneinander auf dem roten
     zerschlitzten Sitz, und später, da sie das europäische Festland erreichten, würden sie über das hübsche Mädchen am Ende des
     Saals sprechen, es war ihnen gleich aufgefallen, es trug einen Rock mit Pfauenaugenmuster, und natürlich – hatte es sie keines
     Blickes gewürdigt. Jetzt aber galt es, dem Halbirren seine Freude am Spiel mit ihnen zu gönnen, er war nicht der Kapitän der
     Fähre, er war kein Mann, der sich von ihnen unterschied durch eine Angestelltenuniform, also mußten sie sich gut betragen,
     denn fast jedes Wochenende fuhren sie mit der Fähre: Eine unbedachte Äußerung – über den Pfauenaugenrock,über den schmutzigen Hemdkragen des Teeknechts – würde ihn zum hundertprozentigen Irrsinn verleiten lassen. Dort, wo sie
     wohnten, wurden die Männer vom Schnapstrinken blind, und die Frauen … sie träumten und träumten einen einzigen Traum, beim
     Auswringen des Bettvorlegers draußen neben dem Ziegelscherbenhaufen, Hand über Hand quetschten sie das Wasser heraus und sahen,
     wie das Schmutzwasser in den Karrenrinnen verlief, und sie träumten von fünf, von zehn Goldreifen an jedem Handgelenk. Dort,
     wo die Brüder lebten, wußte jedes Kind, daß das moderne Leben von der Beleuchtung abhing, sobald die Lichter ausgingen, wäre
     es auch vorbei mit dem politischen Anstand, und die Pestflöhe würden sie alle anspringen. Aber erst dann. Jetzt das Spiel
     des Teeknechts: Wie brachte er sie dazu, sich wie echte Hügelwilde zu verhalten? Sie wandten sich aber ab und starrten durch
     das Bullauge auf den Wellenschaum, sie wurden bespuckt mit aufgeschäumtem Wasser, das war ganz sicher kein Riese, der auf
     dem Meeresgrund lauerte, oder die Seele eines Mannes, der sich für einen Halbgott hielt und deshalb ersoff, diesen und anderen
     Märchen schenkten sie keinen Glauben mehr. Und trotzdem, sie wurden bespuckt. Am Ziegelscherbenhaufen saß manchmal auch eine
     Witwe und rang ihre frisch gewaschene Unterwäsche aus, und da sie es vor den Augen der faulen unverschämten Männer tat, galt
     sie als schamlos. Sie hatte den Gebrüdern erzählt, daß die Schaumkrone ein bespeichelter Mund war und der Meeresboden vor
     Gerippen von Halbgöttern wimmelte, und da war ihr ein glotzender Kerl ins Wort gefallen und hatte sie davor gewarnt, den Jungen
     die Lügen der Vorväter aufzutischen, die einzige Wahrheit, auf die es auf diesem Hügel ankäme, hieße: Gold frißt die Inflation
     nicht weg. Von Gold wollte die Witwe nichts wissen, sie sammelte Glühbirnen mit verbranntem Glühfaden, wenn sie sie beschaute,
     am besten nachts im Schein der zwei Kerzen auf dem Holztisch, wußte sie, daß die Kinder unddie Jungen und die Männer unrecht hatten: Man war auch im Dunkeln modern. Modern war man nicht im Schmutz, in den sich der
     Wegwurf und all die kaputten Dinge eingruben. Sie hütete sich, es den Brüdern zu erzählen, sie hätte ihnen den Traum geraubt,
     den Traum von der Fähre, die man nur zu besteigen brauchte, um an das andere Ufer zu gelangen, dort wurde das Schöne und das
     Prächtige bestrahlt in den Schaufenstern, und die modernen gecremten Frauen schritten daher und machten sich lustig über die
     Hügelwilden, die das Gaffen nicht lassen konnten.
    Der Teeknecht zupfte am Ärmel von Asul, und also mußte er sich ihm zuwenden, was ist da in der Plastiktüte? sagte er, seid
     ihr beiden Kuriere? Wenn ja, muß ich es melden. Ein Weckglas, sagte Asul, wir sind beauftragt worden, es mit gegorenem Hirsesaft
     zu füllen, eine Witwe hat uns darum gebeten, es ist nicht die Jahreszeit für boza, das wissen wir, und das weiß sie auch, die Witwe, wir geben eben unser Bestes und sind anständig. Wieder das Gelächter. Waren
     die Brüder in eine unmögliche Lage hineingeraten? (Konga, der ältere Bruder, hatte die Angewohnheit, aufzuspringen oder einen
     Satz zur Seite zu machen, wenn eine Autoritätsperson ihn mit Fragen bedrängte. Der nichtuniformierte Kellner spielte sich
     lehrerhaft auf. Er war versucht, für einige Augenblicke den Kerl am Kragen zu packen und ihn, wie im Engtanz, Schritt für
     Schritt zurückzudrängen. Er schnellte vom Sitz hoch,

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