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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Mütterchen, der beinamputierte Junge, das böse Kind, das Gänseblümchen vor die Füße
     der Passanten streute und um sofortige Bezahlung schrie, bis es seinen Willen bekam. Was war doch mein Cousin berechnend,
     daß er mich in die Gefahr brachte, dieser Frau mit den frischen Kratzspuren zu folgen, in welches Zimmer auch immer. Du hast
     dich nicht verbessert, du bist abgestiegen, sagte sie leise, wenn das Gespräch auf dich kommt, leiten deine Bekannten ihre
     Entrüstung mit den Worten ein: Ein Schuhmacher, ich bitte euch! Aber es gibt keinen, der besondere Anstrengungen unternommen
     hätte, dich in Verruf zu bringen. Sie halten dich alle eben nur für einen besseren Schuhputzer … Ich bin dir keinen Gefallen
     schuldig, und ich plaudere auch keine Geheimnisse aus, du sollst wissen, daß man sich komische Dinge über dich erzählt.
    Die Einflüsterer. Die Tochterverkäufer. An Herzversagen würde ich, ihnen allen zum Trotz, nicht so bald sterben. Sie fragte
     mich nach meinen weiteren Plänen an diesem Tag, keine Pläne, ich fühlte mich begünstigt, sie sprang vom Hocker hoch und lief
     in eine unbestimmte Richtung, und es gefiel mir, daß in dem Moment, da ich sie in der Menschenmenge nicht ausmachen konnte,
     das böse Kind einen Warnruf ausstieß, es rannte davon, wahrscheinlich rückten die städtischenKontrolleure an. Also erhob ich mich und schlenderte wieder zum Turm, mein Meister würde sich bestimmt über eine Sultanfigur
     für den Setzkasten freuen, ich betrat den Laden in nächster Nähe, der Besitzer war ein Schwarzer, ich starrte ihn an. Haben
     Sie noch nie einen Äthiopiertürken gesehen? sagte er, meine Vorfahren lebten schon vor dreihundert Jahren in diesem Land.
     Und was ist mit Ihren Ahnen? Kaukasus, sagte ich, die Tschetschenen. Haben die Deportation überlebt. Nicht alle. Stalin, Sie
     wissen … Eine Weile musterte er mich schweigend, er ließ den Blick lange auf der Kapuze meines schwarzen Mantels ruhen, und
     dann sagte er einen eigenartigen Satz: Sind Sie ein Empfindsamer in der Blüte Ihrer Verzweiflung? Die Frau, die ich liebe,
     hat sich von mir abgewendet, sagte ich, sie schreibt keine Briefe mehr, sie nimmt meine Anrufe nicht entgegen. Ich habe nicht
     Psychologie studiert, aber eine Frau in ihrer Verfassung nennt man wohl eine Frau ohne Verlangen …
    Dann wandte ich mich ab und wies auf die bemalte Terrakottafigur Sultan Suleimans in der Glasvitrine, ich äußerte den Gedanken,
     daß der groß geratene Turban wie ein abgeschlagener Kopf auf dem Haupt des Herrschers auflag – er ließ mich ausreden, obwohl
     ihm meine Worte zu weit gingen, vielleicht gehörte er zu jenen höflichen Herren, die den Untergang des Imperiums betrauerten.
     Die rostige Kurbel ragte aus meiner Manteltasche heraus, und ich hielt es wegen seiner Anspannung für angebracht, ihn auf
     den Fundort hinzuweisen: Da draußen, in der Nähe, im Unrat. Ich rechnete fest damit, daß er mich des Ladens verwies, er nahm
     die Figur aus meiner Hand und steckte sie mir in die leere Manteltasche, und als ich nach meiner Geldbörse griff, schüttelte
     er den Kopf. Wissen Sie, sagte er, ich habe einen Mann am Steuer und eine Frau auf dem Beifahrersitz streiten sehen. Eine
     alltägliche Situation, werden Sie denken, aber es waren beide Taubstumme, ihre Hände flogen herum. Ich hatte Angst, daßdie Frau ins Lenkrad faßt, oder daß er, um eine besonders komplizierte Beschimpfung zu formulieren, beide Hände gebraucht.
     Eine unberechtigte Sorge. Der Mann fuhr an den Straßenrand, und ich sah diese Hände in ständiger Bewegung. Ich ging selbstverständlich
     weiter, sie sollten sich nicht von mir beobachtet fühlen. Unterwegs habe ich den Entschluß gefaßt, diese Taubstummensprache
     zu erlernen. Um an meine Frage von vorhin anzuknüpfen: Was haben Sie sich vorgenommen? Sind Sie derart empfindsam, daß Sie
     plötzlich Vorurteile gegen das Leben hegen? … Da klingelte mein Mobiltelefon, und der Klingelton, der knackenden Eiszapfen
     nachempfunden war, brachte ihn um die Ruhe, er legte beide Hände wie Muschelschalen um die Ohren, und ich sprach stockend
     mit meinem Onkel aus Ankara, was konnte ihn derart gerührt haben, daß er nach acht Jahren wieder mit mir sprach? Er hatte
     jeden Kontakt gekappt und sogar seinen drei Söhnen verboten, Grußkarten an mich zu schicken – jetzt aber hörte ich ihn nach
     den ersten Worten tief Luft holen, und weil der Atem in seine Brust fuhr, hörte ich auch seine Lungen

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