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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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verfallene
     Stadtmauer, die Moscheen oder den geschlossenen Basar besichtigen, und nun mußte er sich vorkommen wie ein Protokollschreiber
     bei einer Sitzung des Ältestenrats. (Wie verhält es sich mit großen Worten? Macht sich ein Mann lächerlich, wenn er, wie beispielsweise
     Herr Osman es öfter tat, von sich als einem Schuldknecht desSchicksals spricht? Ist der Orient eine Brutstätte der dramatischen Elemente? Wieso kann ein rechtskonservativer Türke nicht
     einfach nur Gesundheit wünschen, wenn jemand niest, und muß aber ihm ein langes Leben wünschen? Die großen Worte sind keine
     Floskeln. Herr Osman weiß, daß er sich zusammenreißt, daß er all seine Kunst aufbietet, um nicht von dem über seinem Haupt
     offenen Raum verschluckt zu werden. Das große Osmanische Reich ist, wie er glaubt, nicht etwa zerfallen, es wurde aufgesogen
     von der Luftleere hoch droben. Mit großen Worten stützt er die dünne Decke zwischen sich und dem grauenhaften Vakuum.)
    Herr Göktürk konnte seine Wut nicht mehr zügeln und erhob sich; Herr Altan besah sich die Schramme an seinem Handrücken und
     erhob sich; Herr Osman atmete pfeifend durch die Nase aus und erhob sich; Herr Erkan hörte auf, das lose Fadenende in seiner
     Hosentasche um den Zeigefinger zu drehen, und erhob sich. Und in der Sekunde, da sie, vereint im Zorn über den Alten mit dem
     albernen Gehstock, zum Angriff übergingen, riß eine Frau die Tür des Teesalons auf, hielt auf der Schwelle inne und fing an
     zu schreien, Herr Altan sah es genau: Bevor sie zum Schrei ansetzte, schon früher, erstarrte der Schuhmacher bei ihrem Anblick,
     und alle, wirklich alle Männer im Raum, in diesem Raum des Rauchs, des Dampfs und der Atemluft, widerstanden dem Drang, sich
     niederzuwerfen, der Schrei schnitt in ihre Körper und in ihre halbvollen Mägen, in ihre Stirnen und in ihre Gedanken, der
     Schrei der ihnen allen, fast allen, unbekannten Frau schnitt und riß und schabte. Der Betreiber des Teeladens ging sofort
     in die Hocke, er hatte seinerzeit kniend und kauernd unter Trümmern das große Erdbeben überlebt, und jetzt plumpste sein Hinterteil
     auf den Boden, aber Rüschtü Bej … der schwerhörige Alte war vor dem Erscheinen der Unbekannten aufgestanden, da er die Attacke
     parieren wollte, und er stützte sich auf seinen Gehstock und machte einen Schritt inRichtung des Ausgangs, und einen zweiten und dritten und vierten Schritt – daß diese Frau schrie, als wollte sie im Stehen
     gebären, war genauso unpassend wie ein kichernder Engel. Doch die Angelegenheiten des Zauberglaubens, derentwegen man ihn
     gerufen hatte, verwirrten sie alle und machten sie nachlässig; an seiner rechten Wade sah er den hochgezogenen Sportstrumpf,
     die Hose steckte im Gummiband – also stockte Rüschtü Bej mitten in der Bewegung.
    Nur der Schuster im schwarzen Mantel erhob sich langsam, der Schrei riß ab, die Frau lächelte ihn an und rannte davon. Ein
     Kind im Wind. Gerade noch konnte sie in den Bus springen, bevor die Türen sich schlossen, gerade noch konnte er einen Taxifahrer
     an den Straßenrand winken, und dann sagte er den lächerlichen Satz: Bitte dem Bus folgen, und der Mann am Steuer lachte ihn
     zu Recht aus, er bot an, ihn an entlegene Plätze zu führen, an denen es Wunder gegen harte Währung geben würde, er selbst
     hätte mit einigen Freunden diese Wunder erleben wollen, sie hatten aber nur die Türsteher verärgert und wären erst von ihnen
     und anschließend, auf dem Polizeirevier, von jungen harten Kerlen verprügelt worden … Die Stahlrippe der Rückenlehne drückte
     gegen seinen Steiß, er fühlte einen großen Überdruß, den Asphaltphilosophen zu lauschen, von ihnen Ratschläge anzunehmen,
     wie gerne wäre er bei der, die ihn vielleicht nie wieder anrufen würde, denn sie ließ keinen Einfluß auf ihre schöne kleine
     Welt zu, seine kleine Welt aber wurde bevölkert von Greisen in Angst und von sachlichen Frauen, denen nichts anderes übrigblieb,
     als das Gerede und die Gerüchte zu überschreien. Sie hatte bestimmt ihre Gründe, er würde es schon erfahren.
    Und Hürmüz stand am Kai im Viertel Ortaköy und nannte ihre Gründe: Das erste Mal, daß ich einen Mann geohrfeigt habe, das
     war … am Tage, als für mich die Schulglocke zum letzten Mal ertönte. Ich bin einmal sitzengeblieben, eingeschult worden bin
     ich recht spät, mit sieben Jahren, also warich achtzehn, also liebte ich einen Siebzehnjährigen. Er sagte: Du bist eine

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