Hiobs Brüder
sodass er an der Flamme vorbei in ihr Gesicht sehen konnte. »Meine Freunde und ich erbitten Obdach vor dem Sturm.«
Die alte Dame zog so scharf die Luft ein, dass es fast wie ein kleiner Schrei klang. Ihre Augen waren schreckensweit, und noch während Losian sich darüber wunderte, dass eine so alte Frau solch strahlend blaue Augen haben konnte, fiel ihr die Fackel aus der Rechten, und sie schlug beide Hände vor Mund und Nase. »O Gott … O gnädiger Herr Jesus Christus …«
Sie schien zu wanken. Losian streckte instinktiv einen Arm aus, um sie zu stützen, und im nächsten Moment hatte sie sich an ihn geklammert und presste das Gesicht an seine Brust. »Mein Junge … mein lieber Junge …« Sie schluchzte. Es klang eigentümlich trocken, wie eingerostet, so als habe sie wenig Übung darin. »Der Herr sei gepriesen. Du bist nach Hause gekommen.«
Losians erster Impuls war, sich loszureißen und zu fliehen. Über den gebeugten Kopf der alten, weinenden Frau hinweg tauschte er einen entsetzten Blick mit Simon – der geistesgegenwärtig die Fackel aufgefangen hatte −, dann befreite er sich aus ihrer Umklammerung, nicht roh, aber bestimmt.
»Ihr … Ihr verwechselt mich, Madame«, brachte er mühsam hervor. Panik schnürte ihm die Luft ab. Sein Sehfeld verkleinerte sich, und sein Herz begann zu rasen. Er wich zurück, bis er an eine Mauer stieß, und legte die Hände flach neben sich auf den kalten Stein. »Bitte … könnte ich den Kastellan oder den Herrn dieser Burg sprechen?«
Die alte Frau stand reglos und sah ihn unverwandt an. Tränen benetzten die faltigen Wangen, aber es kamen keine neuen. »Das bist du«, entgegnete sie.
Losian öffnete den Mund, schloss ihn wieder, sah flehentlich zu Simon.
Der verneigte sich nun seinerseits. »Er … er hat sein Gedächtnis verloren, Madame. Er weiß nicht, wer er ist.«
Nur ein fast unmerkliches Blinzeln verriet ihren Schrecken ob dieser Eröffnung. Dann straffte sie die Schultern, trat auf Losian zu und nahm seine eiskalte Rechte in beide Hände. Sie war eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung in ihrem edlen, blauen Surkot, den Kopf von einem feinen Tuch der gleichen Farbe bedeckt, dessen Enden unter dem Kinn gekreuzt und über die Schultern drapiert waren, sodass allein ihr Gesicht frei blieb. Es war ein stolzes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Aber ihre Stimme klang mit einem Mal sanft. »Dein Name ist Alan de Lisieux.«
Er schüttelte stumm den Kopf. Es war der Name eines Fremden.
»Du bist hier geboren, auf dieser Burg«, fuhr sie fort.
»Wo sind wir hier?«, fragte er. Es klang matt, und das ärgerte ihn, aber seine Knie waren so butterweich, dass er Mühe hatte, nicht an der Wand entlang zu Boden zu rutschen. »Wie heißt dieser Ort?«
Ein kleines Lächeln stahl sich in die Mundwinkel der alten Dame, als sie antwortete: »Helmsby. Und so haben deine englischen Vasallen und Pächter dich immer genannt: Alan of Helmsby.«
Der Sturm hatte das Dach der Scheune im unteren Burghof abgedeckt. Das war der Grund, warum weit und breit kein Mensch zu entdecken gewesen war. Alle waren zur Scheune geeilt und hatten sich bemüht, das fehlende Stück Dach mit Tierhäuten notdürftig zu ersetzen – kein leichtes Unterfangen bei diesem anhaltenden Sturm −, um die Vorräte an Getreide und Heu vor dem Regen zu schützen.
Die alte Dame, die sie im Burgturm aufgelesen hatte und die unbeirrbar behauptete, Losians Großmutter zu sein, hatte Simon gebeten, seine Gefährten aus dem Pferdestall zu holen und in die Halle zu geleiten. »Gebeten« traf es nicht ganz, korrigierte der Junge sich. Es war eher ein in Höflichkeit gekleideter Befehl gewesen. In einem Tonfall, der verriet, dass sie Ungehorsam nicht gewohnt war. Wenn sie wirklich Losians Großmutter war, dann wusste Simon, wem sie diese spezielle Art, ihre Wünsche zu äußern, vererbt hatte …
»Ihr werdet einfach nicht glauben, was passiert ist«, sagte er zu den anderen, als er durch die Tür des Pferdestalls trat.
»Sie haben euch mit einem Tritt hinausbefördert«, tippte Wulfric.
»Sie liegen alle abgeschlachtet in der Halle«, mutmaßte sein Bruder.
»Alles falsch«, entgegnete Simon aufgeregt. »Er …«
»Jemand hat ihn erkannt«, sagte King Edmund leise.
Simon wandte den Kopf in seine Richtung – merkwürdig langsam, so schien es ihm – und starrte ihn an. »Also wirklich, King Edmund. Manchmal bist du richtig unheimlich.«
»Was denn, es ist wahr ?«, fragte Regy fassungslos.
Simon nickte.
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