Hiobs Brüder
verzweifelt sein.«
Alan schreckte hoch. Er war mit dem Kopf auf den verschränkten Armen am Tisch eingeschlafen. Hastig kam er auf die Füße und wandte sich zur Tür um.
Josua ben Isaac stand da mit der feingliedrigen Hand am Riegel, als sei er unschlüssig, ob er nicht einfach wieder verschwinden und warten solle, bis der unliebsame Besucher die Hoffnung aufgab und ging. Sie sahen sich einen Moment in die Augen, und der jüdische Arzt traf seine Entscheidung. Er trat über die Schwelle und schloss die Tür. »Ihr wisst also, wer Ihr seid.«
Alan schüttelte den Kopf. »Ich kenne meinen Namen. Ich habe den Ort gefunden, wo ich geboren wurde und zu Hause bin. Aber ich habe mich nicht erinnert.«
Josua nickte versonnen. »Bitter.«
»Höre ich einen Hauch von Schadenfreude?«
Ein spöttisches kleines Lächeln huschte über das bärtige Gesicht, dann schüttelte Josua den Kopf. »Das wäre eines Arztes unwürdig.«
Eines besorgten Vaters hingegen nicht, dachte Alan, aber er rührte lieber nicht an dieses heikle Thema. Es fühlte sich eigenartig an, wieder in diesem Haus zu sein. Die Tage in Norwich erschienen ihm unendlich weit fort. Unwirklich und flüchtig wie ein Traum. Doch obwohl er hier – in genau diesem Raum – um ein Haar verblutet wäre, war es ein schöner Traum. Ihret wegen. Alan bildete sich ein, Miriams Gegenwart in diesem Haus zu spüren. Vielleicht war sie nur auf der anderen Seite der Bretterwand. Er wusste, er würde sie nicht sehen und nicht mit ihr reden, und das machte ihre Nähe qualvoll. Dennoch berauschte ihn diese Nähe.
Er räusperte sich. »Josua …« Schon nach diesem einen Wort geriet er ins Stocken. Er fühlte sich erbärmlich in der Rolle des demütigen Bittstellers, und ihm war bewusst, dass er sich wahrscheinlich umsonst erniedrigte, dass Josua ihn anhören und dann aus dem Haus jagen würde. Aber ihm blieb nichts anderes übrig.
Während der letzten Nacht hatte er ein oder zwei Stunden lang im eisigen Dauerregen auf einer durchnässten Satteldecke gesessen, hatte seinen Dolch in beiden Händen gehalten und sich die Frage gestellt, ob die ewige Verdammnis wirklich schlimmer sein konnte als diese sinnlose leere Existenz. Ja, lautete das Ergebnis, zu dem er gekommen war. King Edmund hatte ihnen ausführlich von der Hölle erzählt, als sie noch auf der Insel gewesen waren, um ihnen zu veranschaulichen, dass diese irdische Qual eines Tages vorübergehen würde, die Martern der ewigen Verdammnis aber eben genau das waren: ewig. Also hatte Alan den Dolch wieder weggesteckt. Das änderte indessen nichts daran, dass er so nicht weiterleben konnte.
Er rief sich ins Gedächtnis, wie viel Güte Josua ben Isaac Oswald und ihnen allen erwiesen hatte, um sich Mut zu machen, und dann zwang er sich zu sprechen. »Ihr habt recht. Ich bin verzweifelt. Ich habe einen Namen gefunden, ein Zuhause, eine Familie, sogar eine Gemahlin. Aber sie gehören nicht mir. Sie gehören Alan of Helmsby. Und wer immer das sein mag – ich bin es nicht. Aber alle verlangen von mir, dass ich er sein soll. Und irgendwer muss ich ja auch sein. Aber …« Er verstummte.
Josua schaute ihn unverwandt an, sein Blick unmöglich zu deuten. Er sagte immer noch nichts.
Alan fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß, dass ich Eure Hilfe nicht verdient habe. Dennoch … bitte ich Euch darum.« Seine Stimme drohte zu brechen, und er verstummte abrupt und biss die Zähne zusammen. Dann stand er reglos mit herabbaumelnden Armen da und kam sich vor wie der Ochse, der auf die Keule wartet.
»Ich bin keineswegs sicher, dass ich Euch helfen könnte«, sagte Josua schließlich, kam weiter in den Raum hinein und setzte sich auf die Kante der Behandlungsliege.
»Ihr habt gesagt, meine Erinnerung sei verschüttet und man müsse die richtige Stelle suchen, um danach zu graben.« Du hast mich sogar aufgefordert, deswegen in deinem Haus zu bleiben, fügte er in Gedanken hinzu, aber er sprach es lieber nicht aus.
Der Arzt nickte ernst. »Ich weiß, was ich gesagt habe. Und ich muss gestehen, ich würde es gerne versuchen.«
Alan hielt den Atem an. Er hatte darauf spekuliert, dass Josuas Neugier, vielleicht sogar die Eitelkeit, die gewiss jedem Heiler innewohnen musste, ihn verführen würden, es zu tun. Alan hatte nämlich nicht vergessen, dass Josua ihn und seine Gefährten als faszinierende Fälle bezeichnet hatte. Aber wer würde obsiegen? Der Arzt oder der Vater?
Scheinbar unvermittelt wechselte Josua das
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