Hiobs Brüder
als sie aus dem Wald kamen und die ersten Felder von Helmsby erreichten. »Was ist es nun, das die Leute in Metcombe Alan verübeln?«
»Es hat nichts mit ihm persönlich zu tun. Sie sind aus alter Tradition auf jeden Lord Helmsby schlecht zu sprechen. Ein klein bisschen jedenfalls. Einer von Alans Vorfahren hat ihnen ihr Land abgegaunert und sie alle zu Pächtern gemacht. Vorher waren sie Freibauern, die ihr eigenes Land bestellten. Im Gegenzug hat dieser Lord Helmsby sie vor den Dänen beschützt. Die Kränkung vergessen sie natürlich trotzdem niemals.«
»Sie hätten ihr Land aber doch sowieso verloren nach der Eroberung«, wandte Simon ein, denn die Normannen hatten im rückständigen England das andernorts längst übliche Lehenssystem eingeführt: Alles Land gehörte der Krone. Die vergab es stückweise als Lehen an ihre Vasallen. Die Vasallen vergaben wiederum einen Teil ihres Landes als Lehen an kleinere Adlige und Ritter. Die großen Verlierer dieser Landreform waren die Bauern, die für die Scholle, die sie bestellten, Pacht an ihren Grundherrn bezahlen mussten und ihre persönliche Freiheit verloren hatten. »In Wahrheit haben sich doch längst alle daran gewöhnt. Unsere Bauern in Woodknoll trauern den alten Zeiten jedenfalls nicht nach, an die sich ohnehin niemand mehr erinnert. Jetzt herrscht Ordnung im Land, und das wissen sie zu schätzen.«
»Ordnung ?« , wiederholte Guillaume ungläubig. »Krieg, Hunger und Tyrannei herrschen im Land.«
»Im Moment, ja«, entgegnete Simon ungeduldig. »Aber sie werden vorbeigehen. Das System als solches ist stabil, und du kannst mir nicht weismachen, das wüsstest du nicht.«
»Du hast natürlich recht«, räumte der Steward ein. »Ich sage auch nicht, dass die Bauern von Metcombe die alten Zeiten mitsamt den dänischen Piraten zurückwollen. Aber einen ganz leisen Groll hegen sie eben immer noch gegen die Helmsby. Die meisten Menschen tun das gern, einen leisen Groll hegen und ihn von Generation zu Generation weitergeben, weißt du.«
Das war ein seltsamer Gedanke. Simon hing ihm einen Moment nach und nickte schließlich. »Ich glaube, das stimmt. Nur deswegen wettern die Normannen wohl heute noch manchmal über die Angelsachsen und umgekehrt. In Wirklichkeit haben sie sich längst aneinander gewöhnt, und oft genug haben sie sich so vermischt, dass man gar nicht mehr sagen kann, was ein Mann denn nun eigentlich ist.« Die kleine Agatha fiel ihm wieder ein: die Mutter ein englisches Bauernmädchen, der Vater ein normannischer Edelmann mit englischen Wurzeln. »Was wohl einmal aus ihr wird? Agatha, meine ich. Denkst du, Alan wäre es recht, dass sie unter Bauern aufwächst?«
Guillaume warf ihm einen Seitenblick zu. »Agatha ist ein Punkt auf der langen, langen Liste drängender Fragen, die ich mit ihm erörtern wollte. Ich nehme an, auch das ist einer der Gründe, warum er davongelaufen ist.«
Gut möglich, dachte Simon. »Na ja. Mir scheint, vorerst ist sie gut aufgehoben da, wo sie ist.«
»Bis sie groß genug wird, dass die anderen Kinder sie spüren lassen, was sie von ihrem Vater halten. Ihrem leiblichen Vater, meine ich.«
»Das wird wohl noch ein paar Jahre dauern.«
»Bleibt zu hoffen, dass Alan wiederkommt, bevor sie um sind.«
Als sie zur Burg zurückkamen, richtete Emma ihnen aus, Lady Matilda wünsche sie beide zu sprechen.
Simon und Guillaume tauschten einen Blick. Seit Alan aus Helmsby verschwunden war, war seine Großmutter so fürchterlicher Laune, dass niemand sich freiwillig in ihre Nähe wagte. Doch da die alte Dame nach ihnen geschickt hatte, blieb ihnen natürlich nichts anderes übrig.
»Ich habe die Insel überlebt«, murmelte Simon auf der Treppe vor sich hin. »Vermutlich werde ich auch das hier überstehen.«
»Ja«, brummte Guillaume über die Schulter. »Wagen wir uns mannhaft in die Höhle des Drachen …«
Der fragliche Drache saß vor dem Stickrahmen am offenen Fenster, die Augen leicht verengt, denn es dunkelte jetzt, und Lady Matildas Augen waren nicht mehr die allerbesten.
»Ihr wünschtet uns zu sprechen, Madame?«, fragte Simon höflich.
Ohne sich zu erheben, streckte sie die Hand aus, nahm wortlos einen Brief vom Tisch und hielt ihn Simon hin. Der nahm ihn – sicherheitshalber mit einem kleinen Diener – und reichte ihn Guillaume, aber der schüttelte den Kopf. »Ich kann’s auch nicht«, sagte er. »Wir halten uns hier immer einen Mönch für die Bücher.«
Lady Matilda schnaubte diskret, aber
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