Hiobs Brüder
geschnappt, haben wir uns Vorwürfe gemacht«, gestand Ælfric. »Wir sind sofort nach Hause geritten und haben uns auf die Suche nach dir und nach ihm gemacht. Doch als wir ihn in Suffolk endlich fanden, war’s schon zu spät. Er war tot. Elend an Wundbrand verreckt, hieß es.«
Alan nickte. »Besser so. Gott allein weiß, was er getan hätte, wärt ihr ihm in die Hände gefallen. Und er hätte euch ja nicht sagen können, wo ich bin.«
»Wieso bist du so sicher?«, konterte Roger. »Wieso soll nicht er es gewesen sein, der dich in dieses Kloster am Ende der Welt verschleppt hat?«
»Nicht sein Stil, oder?«, entgegnete Alan.
Seine drei Cousins nickten nachdenklich.
»Sein Stil war es eher, seine Opfer in einen Sarg voll spitzer Steine zu legen«, knurrte Ælfric. »Das haben uns die Bauern von Ely erzählt. Er legte einen von ihnen in diesen Sarg, ließ weitere scharfkantige Steine auf ihn häufen und dann den Deckel schließen. Die Steine zermalmten dem armen Teufel allmählich die Knochen. Die anderen aus dem Dorf mussten zusehen, und als sie es nicht mehr aushielten, die Schreie zu hören, haben sie schließlich verraten, wo sie ihre Pennys versteckt hatten. Mandeville hat den Mann trotzdem nicht aus dem Sarg geholt.«
Alan bekreuzigte sich.
»Jetzt liegt er selbst in einer Kiste und verfault«, bemerkte Roger mit Befriedigung. »Unbegraben. Wegen der Überfälle auf die Klöster in Ely und Peterborough haben sie ihn exkommuniziert, und seine Söhne weigern sich, ihn in ungeweihter Erde zu verscharren. Bleibt zu hoffen, dass sie einen gut belüfteten Raum haben, um ihren alten Herrn aufzubewahren …«
»Aber wenn er es nicht war, der dich nach Yorkshire verschleppt hat, wer dann?«, fragte Athelstan nach einem kurzen Schweigen.
»Ich weiß es nicht«, bekannte Alan.
»Wer war bei dir?«
Alan schüttelte den Kopf. »Diese letzten Tage sind immer noch sehr lückenhaft in meiner Erinnerung. Aber soweit ich weiß, bin ich ohne Begleitung von Helmsby aufgebrochen. «
»Was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht?«, schalt Ælfric. »Wolltest du es ganz allein mit Geoffrey de Mandevilles Privatarmee aufnehmen?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt irgendetwas gedacht habe.«
Athelstan ohrfeigte sich selbst, weil eine der zahlreichen Mücken auf seiner Wange gelandet war. »Lasst uns ein bisschen junges Holz auflegen, sonst sind wir morgen früh ausgesaugt.«
»Lieber zerstochen als erstickt«, widersprach Ælfric.
Alan ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken und sah in den Sternenhimmel hinauf. Es war eine klare Nacht, und der Mond war noch nicht aufgegangen. Wie ein juwelenbesetztes Kirchengewölbe erstreckte der Himmel sich über dem flachen Land. East Anglia mochte reichlich mit Sümpfen und Mücken gesegnet sein, aber er war sicher, nirgendwo in England sah man einen so weiten Sternenhimmel wie hier. Und er stellte fest, dass er es kaum erwarten konnte, nach Helmsby zu kommen. Er verspürte etwas, das er vollkommen vergessen hatte: Heimweh. Er schwelgte in dem Gefühl. Nur wenn man wusste, wer man war und wohin man gehörte, konnte man Heimweh empfinden. Welch ein Luxus, dachte er. Welch ein Geschenk . Er fand es ein bisschen albern, wie sehr dieses Gefühl ihn beglückte, aber das änderte nichts an dessen Heftigkeit. Seine Sehnsucht nach Helmsby, nach seiner wunderschönen Burg, seinen Wäldern und Weiden und Feldern und seiner atemberaubenden Kirche war so überwältigend, dass sie sein Unbehagen ob des Wiedersehens mit all den Menschen, die ihn dort erwarteten, weit überwog.
Im goldenen Abendlicht des folgenden Tages ritten sie in den Burghof ein. Alan saß vor dem Stall ab, klopfte Conan dankbar den muskulösen Hals und reichte die Zügel einem der Stallknechte. »Hier, Edwy. Eine Bremse hat ihn direkt am Auge erwischt. Sieht schlimm aus. Aber du weißt ja sicher, was zu tun ist.«
Edwy nickte und sah ihn unverwandt an. »Ihr wisst meinen Namen wieder.«
»Was? Oh …« Alan lächelte verlegen und fuhr sich mit der Hand über Kinn und Hals. »Ja. Ich weiß ihn wieder.«
Der alte Stallknecht, der mehr über Pferde wusste als alle übrigen Männer in Helmsby zusammen, nickte zufrieden und führte seinen Schützling aufs Stalltor zu. »Willkommen zu Haus, Mylord«, brummelte er über die Schulter.
»Danke.«
Alan ging mit langen, beinah federnden Schritten auf die Motte zu und schaute sich derweil um. Fast war es, als sehe er Helmsby Castle zum ersten Mal, und mit diesem
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