Hiobs Brüder
Tag.
»Simon! Was ist passiert?«
Der Junge machte eine beschwichtigende Geste. »Nichts. Na ja, das ist nicht ganz richtig, aber keine neuen Katastrophen. Komm mit, Alan. Und Ihr auch, Madame.« Er weigerte sich, ihr gegenüber auf Förmlichkeiten zu verzichten, denn ihm lag daran, ihr die Ehre zu erweisen, die ihr als Lady Helmsby zustand. Gerade in ihrer prekären Lage finde er das wichtig, hatte er Alan erklärt.
Der setzte sich auf. »Wohin?«
»Auf die Burg.« Als Alan etwas einwenden wollte, hob er die Hand – untypisch entschieden. »Stell mir keine Fragen. Komm einfach. Ich glaube, du wirst es nicht bereuen.«
Auch auf dem Pfad durch das Wäldchen zwischen Dorf und Burg ließ Simon sich nichts entlocken, und so legten sie die halbe Meile schweigend und eiligen Schrittes zurück.
Die bischöflichen Soldaten hatten beide Tore besetzt, aber seltsamerweise erhoben sie keine Einwände, als Simon die Verbannten in den Hof führte. Helmsby Castle erwachte gerade. Im Kuhstall wurde gemolken, und eine Magd holte die Eier aus dem Hühnerhaus. Ihr Korb war fast leer, denn es war spät im Jahr.
In der Halle bot sich ihnen ein höchst sonderbares Bild: Anselm de Burgh, der ehrwürdige Subprior von Norwich, saß allein an der hohen Tafel, die mit einem Mal wie eine Richterbank wirkte, und blickte mit ausdrucksloser Miene auf Haimon de Ponthieu, der vor ihm stand wie ein armes Sünderlein: das Haar zerzaust, die Kleider in Unordnung, besudelt mit Dreck und – so schien es Alan – Blut.
»Was geht hier vor?«, fragte Alan verwirrt, nahm Miriam bei der Hand und führte sie langsam nach vorn.
Simon ging neben ihm her. »Dein Cousin hat dir etwas zu sagen. Uns allen, um genau zu sein.«
Sie stiegen auf die Estrade, setzten sich aber nicht zu de Burgh an den Tisch.
Alan betrachtete seinen Cousin, und mit einem Mal fühlte es sich an, als trüge er einen heißen Stein im Magen. Haimons Gesicht wirkte krank, unnatürlich bleich im Kontrast zu dem dunklen Bartschatten. Er zitterte und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Alan war lange genug im Krieg gewesen, um genau zu wissen, was er hier sah. Sprachlos wandte er sich an Simon.
Der junge Mann war die Ruhe selbst. »Ja, ich weiß, Alan«, sagte er. »Aber es ging nicht anders. Und er hatte es selbst in der Hand, welchen Preis er zahlt. Regy hat erstaunlich lange gebraucht, die Wahrheit aus ihm herauszuholen. Und das ist kein Wunder.« Angewidert zeigte er mit dem Finger auf Haimon. »Was er getan hat, würde niemand gern gestehen. Na los, Monseigneur«, forderte er ihn rüde auf. »Seht Eurem Cousin in die Augen und wiederholt, was Ihr uns letzte Nacht erzählt habt.«
Haimon musste eine Vierteldrehung machen, um Alan ins Gesicht schauen zu können, und geriet dabei ins Wanken. Aber er fing sich wieder. »Ich kam nach Helmsby und hörte von Großmutter, dass du mutterseelenallein aufgebrochen warst, um Geoffrey de Mandeville zu jagen. Sie war ja so stolz auf dich.« Ein bitteres kleines Lächeln flackerte über seine Züge. »Aber ebenso in Sorge, denn du warst schon ein Weilchen fort, und niemand hatte von dir gehört. Also hat sie mir in den Ohren gelegen, dich zu suchen. Und ich … bin losgeritten und hab es getan. Vier, fünf Tage habe ich mit meinen Leuten die Fens durchkämmt. Und schließlich habe ich dich gefunden.«
Er brach ab.
Oh mein Gott, Haimon, dachte Alan erschüttert. Bitte nicht. Aber sein Entsetzen war ihm nicht anzuhören, als er fragte: »Wo?«
Ein kleiner Blutfleck hatte sich auf Haimons Brust gebildet, ein weiterer auf der Schulter, und sie wuchsen. »In einem Geisterdorf. Alles verbrannt, überall grässlich verstümmelte Leichen. Du knietest in einem Bach – von Kopf bis Fuß durchnässt –, und du hattest ein totes kleines Mädchen in den Armen. Bist du sicher, dass du den Rest hören willst?«, fragte er mit einem Anflug von Hohn.
Alan war sich alles andere als sicher, aber er nickte.
»Du … du hast sie gewaschen. Und auf sie eingeredet. Du warst … vollkommen wahnsinnig. Und als ich zu dir kam, wusstest du nicht, wer ich bin. Ich hab dich angesprochen. ›Alan, was ist denn nur passiert, Cousin‹, hab ich zu dir gesagt. Du hast nicht geantwortet. Du warst … in einer ganz anderen Welt.« Er verstummte.
»Und was geschah weiter?«, fragte Anselm de Burgh. Es klang äußerst streng. Seine Sympathie für Haimon schien sich seit dem gestrigen Abend ein wenig abgekühlt zu haben.
Haimon fuhr sich mit der Zunge über die
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